Das Blumenkind

Im Land herrscht Krieg. Männer werden getötet, Frauen auch, Kinder ebenso. Warum der Krieg vor langer Zeit angefangen hat, weiß niemand mehr. Als alles tot daliegt und die feindlichen Krieger in die Heimat ziehen, gebärt die letzte lebende Frau des Landes ein Kind, bevor sie vor Entkräftung stirbt. Das Kind überlebt, weil es von einem Heimatlosen mitgenommen und ernährt wird.


Das Leben für das winzige Menschlein ist nicht einfach. Ständig unterwegs. Wenig zu essen. Meistens zu kalt. Doch es wächst, und es wächst gut, je länger es lebt.

Sein Ziehvater, der Heimatlose, ist stumm. Das Kind wickelt er in saubere Tücher und trägt es auf seinen Reisen immerfort an der Brust. Das Kind atmet warm, während es schlummert. Der Vater geht, das Kind schaukelt mit. Der Vater schweigt, das Kind wird nur selten laut. Das Kind braucht Muttermilch, also geht der Heimatlose in Dörfer und hält es den jungen Müttern hin. Die verstehen und drücken den hungrigen Mund an die Brust, während das eigene Kind an der anderen saugt. Der Heimatlose wartet derweil draußen oder erledigt Arbeit, die man ihm aufgetragen hat. Holzhacken ist schön, denkt er sich, und hackt schöne Stücke zurecht. Dann holt er das satte Kind und geht weiter. Schritt um Schritt. Stilles, richtungsloses Schreiten.

Das Kind wird tapfer und hämmert schon mal an die väterliche Brust. Es will schon den Boden berühren. Die Erde zieht es an sich heran. Schon krabbelt es auf allen Vieren neben dem Vater fort. Der Heimatlose hat keine Eile, er macht die Schritte kurz. Oft sieht er hinunter zum Kinde und hilft, wo es nötig ist.

Die beiden durchstreifen viele Länder. Die Menschen sprechen vielerlei Sprachen, tragen vielerlei Kleider, leben in unterschiedlichen Häusern. Was sie verbindet, ist der Himmel über ihren Köpfen und der Kampf, den sie ständig austragen. Völker kämpfen gegen Völker, Gläubige gegen Andersgläubige, Reiche gegen Arme, Familien gegen Familien, Männer gegen ihre Frauen und Frauen gegen ihre Männer. Wo nicht mit Waffen gekämpft, wird mit Händen geschlagen, wo nicht mit Worten verletzt, wird mit Blicken gestraft. Der Heimatlose sieht den Wohlstand der Menschen; die meisten sind gesund, haben Essen und Haus, Kinder und Hof. Warum sie immerzu kämpfen müssen, weiß der Heimatlose nicht. Er geht weiter.

Verschiedene Gedanken besuchen ihn auf seinem Weg, doch schenkt er ihnen keine Beachtung und so bleiben sie nicht lange. Der Wanderer sieht lieber auf die Straße vor ihm, beobachtet Bäume und Berge, versinkt im Blau des Himmels. Er mag es, auf geraden Wegstrecken himmelwärts zu sehen, ohne sich um seine Füße zu kümmern. Sie machen ihren Weg von allein. Die Welt ist schön, denkt der Vater. Das Kind lächelt in die Sonne. Die Welt ist so, wie sie ist. Sie fühlt sich wirklich an. Die Füße spüren den Boden, mal ist er weiche Erde, mal harter Stein, dort ist er goldener Sand, hier breiiger Schlamm. Die Abwechslung tut den nackten Füßen gut.

Das Kind, wenn es geht, hat die Erde zum Freund, hat sie zum Spielgefährten, hat sie zur Mutter. Das Kind kennt keine Schuhe; der Boden kleidet die kleinen Füße, der Regen wäscht sie, das Gras kitzelt sie, der Schnee bettet sie in prickelndes Kühl.

Die Tage gleichen sich und sind doch alle verschieden. Der Vater liebt das Kind und nimmt viel Arbeit an, um es zu versorgen. Wenn sie im Walde sind, schnitzt der Vater Spielzeug für sein Kind. Das Kind liebt den Vater, es streichelt ihm oft über die Nase und lacht dazu. Das macht den Vater froh.

Weil der Vater keine Worte spricht, lernt das Kind die Sprache des Schweigens. Es lernt Tiere zu verstehen, lernt das Lied des Vogels, das Summen der Biene, das Rauschen des Baches. Freilich hört das Kind, wie Menschen reden, doch zu selten, um die Menschensprache lernen zu können.

Das Kind wächst und läuft schon mit sicherem Tritt den Schmetterlingen hinterher. Oft sitzen Vater und Kind beieinander und erholen sich vom langen Gehen. Dann wird das Kind ganz still. Es schaut dem Vater zu, wie er die Kleidung flickt, wie er nach Holz für das Nachtfeuer sucht, wie er Essen zubereitet. Bei Regen und Wind übernachten die Wanderer unter einem Dach, das der Vater aus Baumzweigen baut. Das gibt Schutz und etwas Wärme. Tagsüber geht es ohne Eile weiter, über Felder und Wege, Flüsse und Hügel.

Eines Tages steht der Heimatlose vor einer Stadt, die Artika heißt. Er geht hinein und staunt. Die Menschen, die es hier viele gibt, tragen farbenfrohe Kleidung, die Straßen sind sauber, es herrscht Stille und Frieden. Brunnen schmücken Straßen und Plätze, an Marktständen stehen die Verkäufer und blicken freundlich vor sich hin.

Auf einem Platz versammeln sich Menschen, um einem Musiker zu lauschen, der ein dem Heimatlosen unbekanntes Instrument spielt. Die Saiten streicht der Virtuose so zärtlich, dass die Töne kaum zu hören und doch von größter Harmonie sind. Die Musik ist keine Melodie, die Noten reihen sich wahllos aneinander und klingen dabei doch wohlgeordnet. Wonnevoll ist die kurze Zeit, die der Heimatlose an diesem Platz verbringt.

Das Kind schläft friedlich an des Vaters Brust. Straßenkünstler haben ihre Staffeleien mitten auf der Straße aufgestellt und malen, was sie vor sich sehen. Gesichter werden gezeichnet, Häuser wachsen auf der Leinwand empor, Vögel erstarren lebendig. Die Künstler benutzen viel Gelb und Blau und Grün und Rot. Einige malen mit schwarzer Kreide, doch auch ihre Gemälde strahlen.
Die Ruhe in der Stadt ist trotz vieler Betriebsamkeit allgegenwärtig. Chaotisch erscheint nur das Spiel der Kinder, die ihren Ball einander zuwerfen. Manchmal fliegt der Ball einem Vorbeigehenden zu, der diesen zurückwirft und froh weiter geht. Der Vater staunt weiter, als er die ganze Stadt in Freude und Schaffen sieht. Gibt es denn hier keinen Streit, keinen Krieg?

Das Kind wird wach und fordert Essen. Der Vater klopft an die nächste Tür, die von einem jungen Mann geöffnet wird. Der Vater deutet auf das Kind, dann auf dessen Mund. Der Mann scheint zu verstehen, geht ins Haus und kommt mit seiner Frau zurück. Diese sieht das Kind an und nickt Verständnis. Sie bittet den Vater hinein, setzt Wasser auf, kocht Erbsenbrei. Ihr Mann sitzt daneben, betrachtet das Kind, streichelt die weiße Wange. Die junge Frau singt leise, während sie langsam im Topf rührt. Ihr Mann holt frisches Brot und Käse. Gemeinsam essen sie. Die beiden freundlichen Menschen wollen, dass Vater und Kind für einige Tage bei ihnen bleiben. Der Vater ist dankbar. Die Gastgeber zeigen ihm ein kleines Zimmer, wo er und das Kind schlafen können.

Tagelang geht der Vater in der Stadt umher, das Kind stets bei sich. Das Leben der Menschen hier ist schön, denkt der Heimatlose. Hier muss das Kind bleiben, hier muss es groß werden. Es soll diese Luft atmen und nicht kämpfen müssen. Der Vater küsst das Kind auf die Stirn und geht in der Morgendämmerung davon. Das Kind bleibt bei den lieben Gasteltern, die sich fortan um das Menschlein kümmern.

Da steht bald ein Krieger vor der friedlichen Stadt. Müde sieht er aus, leidvoll, von schweren Gedanken geplagt. Der Krieger hat gehört, dass Schwermut und Müdigkeit, die sein ganzes Leben wie Gewitterwolken über ihm stehen, geheilt werden können. Dazu muss er eine Blume finden, in deren blauen Blüte sich heilendes Wasser sammelt. Viele Städte hat der Krieger schon aufgesucht, weil er sie im Besitz der magischen Blume glaubte. Reich ist er gewesen, hat Männer angeheuert, die ihm helfen sollten, wurde bald arm und verrückt. Nun steht der Verzweifelte vor Artika. Niemand verwehrt ihm den Eintritt. Die Einwohner fragt er sogleich nach der Blume. Niemand weiß davon.

Wutentbrannt beginnt der Wahnsinnige die Leute abzuschlachten. Schon ist er am Haus, in dem das Kind wohnt. Der Mann stellt sich schützend vor seine Frau, die das Kind in den bebenden Händen hält. Du musst fliehen, hoch in die Wälder! ruft der Mann und wehrt sich gegen den Heranstürmenden. Die Frau flieht, läuft ohne Halt. Das Kind legt sie in ein Erdloch und bedeutet ihm, still zu sein. Alleine läuft sie weiter. Sie wird verfolgt. Ihr Mann hat den Kampf verloren. Bald ist auch ihre Flucht vorbei.

Die Nacht bricht herein. Das Kind vernimmt eine weiche Stimme. Es ist ein Wiegenlied, das da ertönt. Das Kind wird fortgetragen, auf warmen Lüften schläft es ein. Als es wieder wach wird, liegt es im Schoß einer blau schimmernden Frau. Sie hat zartweiße Flügel auf dem schmalen Rücken und singt:

Du glaubst, du bist allein mein Kind,
Doch dich werd´ ich beschützen.
Weine nicht mehr, denn du hast nun
Eine liebe, zarte Mutter.
Iss diese Beeren, trinke aus dem Blatt,
Ich lege dich ins weiche Gras.
Hier hast du Schutz, hier hast du Schlaf, hier bist du außer Sicht,
Der Wind wird wehen als dein Freund, er streichelt dein Gesicht.
Nun schlaf.

Und das Kind schläft ruhig bis zum Morgen.

Sonnenstrahlen fallen sanft auf des Kindes Augen. Strahlend wacht es auf, gähnt und reckt sich, dreht den Kopf in den Schatten. Die Luft riecht nach Blumen und schwingt frisch. Das Kind richtet sich auf, sieht um sich, erkennt nur Bäume und Grünes. Hunger kratzt an seinem leeren Magen.

Plötzlich sind Stimmen da. Das Kind stellt sich auf die wackligen Beine und läuft in Richtung des Stimmenchors. Eine Lichtung erscheint, an der viele Menschen versammelt sind. Einige von ihnen tanzen, andere singen oder liegen unter Bäumen im Gras. Auch die Frau von gestern ist da. Die Mutter umarmt das Kind und lächelt sanft. Sie weiß, dass es hungrig ist; das Kind setzt sie auf ihren Rücken und steigt in die Luft.

Sie fliegen hoch über den Bäumen. Das Kind hält sich am Kleide der Fliegenden fest. Es genießt die Fahrt durch die Lüfte und spürt die Wärme der Mutter. Sie fliegt in den Wald hinein, wo sie geschickt zwischen den Bäumen flattert und das Kind schließlich sicher auf der Erde absetzt.

Überall Blumen, blaue, riesengroße Blumen mit breiten Kelchen, in denen Tau steht. Die Mutter taucht ihre Hände ins Blumenwasser. Sie wäscht sich das Gesicht und tut das Gleiche beim Kinde. Es lacht; das Wasser kitzelt die Haut angenehm. Nach der Morgenerfrischung nähert sich die Mutter einer etwas kleineren Blume und trennt ein Blütenblatt davon. Dieses gibt sie dem Kind und greift sich ein anderes. Sie beißt ein Stück ab und kaut langsam darauf, wobei sie das Kind ansieht und lächelt. Das Kind versteht, es beißt ebenfalls ein Stück von seinem blauen Blatt ab. Ein süßer, duftiger Geschmack entfaltet sich in seinem Mund. Das Kind genießt jedes Stück und ist bald satt. Zu trinken gibt es Blumenwasser. Zufrieden fliegen Mutter und Kind zurück auf die Waldlichtung zu den anderen Blumenmenschen.

So lebt das Kind unbeschwert und glücklich im Kreise der wundersamen Wesen, lernt ihre Sprache und ihre Sitten, und vergisst schließlich sein früheres Wanderleben und die Flucht aus Artika. Die Blumenmenschen werden zu seinen Brüdern und Schwestern, Vätern und Müttern. Stets leben sie friedlich in den Tag hinein, singen und fliegen hoch über den Wäldern, spielen Spiele, trinken Blumenwasser.

Als es Zeit wird, fliegen die Blumenmenschen das Kind auf einen hohen Berg hinauf, wo alte Blumenmenschen leben. Sie können nicht mehr fliegen, da ihre Flügel abgefallen sind. Die Blumen auf dem Berge sind etwas kleiner, das Blumenwasser kühler, die Sonne heller, die Tage ruhiger. Hier soll das Kind bleiben und von den Alten die Weisheit erfahren. Das Kind ist einverstanden. Widerwille kennt es nicht. Schnell sehen die Alten, dass das Kind einverstanden ist mit seinem Schicksal, und sie nicken dazu. Sie lächeln immerfort und schweigen.

Auf dem Berg gibt es nichts zu sagen. Am Morgen wird der Tag still begrüßt; die Sonne dreht ihre Runde und wird in ihrer Bewegung aufmerksam verfolgt. Dann kommt der Abend, und der Sternenhimmel wird betrachtet. Das Kind sieht bald: Die Gestirne sind einverstanden mit ihrem Stand auf dem Firmament.

Immer wieder deuten die Alten auf einen besonders hellen Stern, der heller zu leuchten scheint, als die anderen. Lange betrachtet das Kind diesen Stern, sieht ihn sich nächtelang an, sucht ihn auch am Tage und träumt von ihm nachts. In diesem Stern wohnt ein Geheimnis, denkt das Kind. Diesen Stern muss ich enträtseln. Und so liegt es Nacht für Nacht im weichen Gras und sieht den Stern leuchten.

Und dann, in einer kühlen Herbstnacht, vergisst das Kind alles um sich herum, vergisst auch sich selbst im Betrachten seines Sternes. Es gibt nur diesen hellen, überhellen Punkt, der immer größer und heller wird und immer näher kommt. Schon ist nur das Licht da. Das Kind selbst wird Licht. In einem wunderbaren Moment erfährt das Kind das Geheimnis, es erfährt die Weisheit der Blumenmenschen. Das weiche Gras unter dem Kinde fängt an zu rascheln und sich zu bewegen. Das Kind liegt selig da, während ihm zartweiße Flügel auf dem Rücken wachsen.

Am Morgen steigt das frischgeborene Blumenkind in das helle Himmelblau und fliegt über die Welt. Unter sich sieht es Wälder und Städte, Flüsse und Brücken. Es sieht die niedergebrannte Stadt Artika, es sieht auch den Krieger, wie er sich einsam und wahnsinnig über die Erde schleppt. Und auf einer Waldlichtung sieht es einen Mann, der mit nackten Füßen dasitzt und Spielzeug aus Holz schnitzt.