Weißes Rauschen [Roman]


1

Ich starre auf den Bildschirm und kann es nicht glauben. Die Künstliche Intelligenz hat die Antwort generiert: Technologie wird Bewusstsein nicht erklären können. Und weiter: Es ist ausgeschlossen, dass Technologie die Frage nach dem Sinn des Lebens lösen kann. Auch wird sie Bedürfnisse, die über die biologischen Grundbedürfnisse hinausgehen, nicht befriedigen können. Ich tippe: Und was ist mit dem Tod? Die KI antwortet: Alles spricht dafür, dass es den Tod nicht gibt.

Ich klappe den Laptop zu und atme durch. Draußen scheint die Sonne. Ich habe nichts zu tun, also sehe ich aus dem Fenster. Im Haus gegenüber sitzen zwei auf der Terrasse und strecken ihre Gesichter der Sonne entgegen. Ich beobachte sie eine Weile. Dann meldet sich der Zwang: Ich muss staubsaugen.

Ich springe auf, hole den Staubsauger, stecke ihn an, drücke den Knopf. Das Gerät summt los, ein angenehmer Schauer jagt durch meinen Körper. Ich sauge und entspanne mich. Noch mehr gefällt es mir, wenn jemand anderes saugt. Dann kann ich mich zurücklehnen und das Geräusch genießen. Weil ich aber allein lebe, muss ich es selbst machen.

Ich habe eine App mit allen möglichen Geräuschen: Staubsauger, Föhn, Ventilator, Wellen, Regen, Wald. Die Naturgeräusche mag ich nicht besonders. Ich höre mir am liebsten technische Sachen an, vor dem Schlafengehen oder einfach so. Jetzt aber ist mein Zwang am Zug und verlangt nach echtem Staubsaugen.

Ich arbeite gründlich, minutiös, gewissenhaft. Ich lasse die Bürste rhythmisch über den Boden gleiten. Hin und her, hin und her. Ich lasse keine Ecke aus.

Irgendwann bin ich durch. Für das dreißig Quadratmeter große Appartement habe ich eine Stunde gebraucht. Ich verstaue den Staubsauger im Schrank, setze mich hin und horche in mich hinein. Der Zwang ist erstmal ruhiggestellt.

Seitdem ich nicht mehr arbeiten gehe, bin ich die meiste Zeit zu Hause. Den Fernseher habe ich verkauft. Ich will mich nicht ablenken lassen. Ich will mich vom Materiellen trennen und mehr Zeit in der Stille verbringen. Loslassen, keine Verpflichtungen, Freiheit. Die Wohnung ist noch viel zu voll.

Ich gehe in die Küche und nehme mir eine Banane. Vermutlich wird es das Einzige sein, was ich heute esse. Ich halte strenge Diät. Mit der Zeit verschwindet das Hungergefühl. Ich fühle mich leicht, schlank, schwebend. Ich kann mich im Spiegel ansehen und zufrieden sein. Meine Wangenknochen treten deutlich hervor. Mein Haar ist kurzgeschoren. So muss ich mir keine Gedanken um meine Frisur machen. Die Haare schneide ich mir mit der Maschine selbst.

Nachdem ich die Banane gegessen habe, setze ich mich auf den Futon. Es ist eines der letzten Möbelstücke in der Wohnung. Da ich nicht mehr koche, brauche ich keine Küche mehr. Mein Obst liegt in einem Karton in der Ecke.

Der Futon ist mitten im Zimmer ausgebreitet. Meine wenigen Kleidungsstücke, allesamt schwarz, liegen ordentlich gestapelt an der Wand.

Ich wasche die Sachen in der Waschküche unten im Keller. Manchmal bleibe ich den gesamten Waschgang über dort und höre den alten Maschinen zu. Wenn jemand von den Nachbarn kommt, um eine Ladung in die Maschine zu schmeißen oder die fertige Wäsche abzuholen, tue ich so, als ob ich etwas an der Maschine einstellen würde. Ich sehe konzentriert auf die Anzeige und drücke Knöpfe. Auf das Hallo der Nachbarn sage ich Hallo zurück, lächle freundlich und hantiere weiter an der Maschine. Die Heuchelei nervt mich maßlos. Ich überlege deshalb, mir eine eigene Waschmaschine für die Wohnung zu holen. Der Gedanke daran stört mich zwar, aber es wäre bestimmt besser, als hier unten ständig unliebsamen Begegnungen ausgeliefert zu sein.

Die Künstliche Intelligenz werde ich nicht mehr benötigen. Ich kann ebenso gut für immer offline gehen. Also kündige ich kurzerhand das Internet zum Monatsende. Bei der Gelegenheit stelle ich den Computer zum Verkauf ein. Da ich keine privaten Daten drauf habe, setze ich das System auf Werkeinstellungen zurück. Ich werde einen Karton für den Versand besorgen müssen.

Es bleibt nichts mehr zu tun. Um Lebensmittel muss ich mir keine Gedanken machen. Eine Kiste voll Obst steht zweimal die Woche vor meiner Tür. Der Service kostet nur ein paar hundert Euro im Monat. Ich finanziere mein einfaches Leben aus dem Gewinn, den ich an der Börse gemacht habe. Bei meinem sparsamen Lebensstil würde das Geld noch lange reichen.

Es gibt also nichts mehr zu tun, nichts zu besorgen, nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste. Ich bin unabhängig und frei. Ich lese seit geraumer Zeit nichts mehr, weil Bücher mich nicht mehr befriedigen. Sie geben mir keine Antworten. So sitze ich auf dem Futon mitten in der leeren Wohnung und habe nichts mehr zu tun. Frei, ungebunden, ohne Pflicht. Ich bin allein mit meinem Gedankenstrom und meinen Zwängen. Ich weiß, dass ich sie bezwingen muss, um nicht von ihnen abhängig zu sein. Und ich habe alle Zeit der Welt.

Es gibt nichts mehr zu tun, die Zeit steht still, es ist still in der Wohnung. Ich atme durch und lege mich hin.

2

Über mir die Zimmerdecke, unter mir der harte Futon. Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ich lege mir die Hände auf die Brust und spüre, wie sich der Brustkorb hebt und wieder senkt. Ich schließe die Augen. Die Dunkelheit hinter den Augenlidern ist hell, draußen scheint die Sonne und flutet den Raum mit Licht.

Ich sehe mir das helle Nichts an. Meine Augen wandern nach oben, nach rechts, nach unten, nach links. Sie beschreiben einen Kreis, dann in die andere Richtung, und bleiben in der Mitte stehen.

Gedankenfetzen kommen, Gedankenfetzen gehen. Ich starre die Gedanken an und lasse sie weiterziehen. Wer nimmt die Gedanken wahr? Das bin ich. Und wer bin ich? Darauf habe ich keine Antwort.

Es bleibt lange still in meinem Kopf, es kommt lange kein Gedanke. Ich schaue aufmerksam zu, ich beobachte die Stille. Dieses Wahrnehmen, was ist das eigentlich? Ich versuche den Ursprung zu finden. Ich versuche, meine Augen nach hinten zu kehren und herauszufinden, was hinter den Augen liegt.

Wenn ich beobachte, wer ist dann der Beobachter? Ich beobachte die Beobachtung. Ich nehme das Wahrnehmen wahr. Ich schaue das Schauen an. Sind es zwei Beobachter? Kann es diese Trennung geben? Oder ist das nur ein weiterer Gedanke, ein raffinierter Trick des Geistes?

Ich fokussiere mich aus voller Kraft und frage mich: Wer beobachtet die Beobachtung? Ich. Wer bin ich? Keine Antwort. Ich schaue angestrengt in mich hinein und versuche zu ergründen, wer dieses Ich ist. Doch ich sehe nur das reine Wahrnehmen.

Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich sehe einen Raum, der immer größer wird, ein Wahrnehmen, das immer weiter expandiert, ohne eine Mitte, grenzenlos. Ich spüre den Körper nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit wendet sich dem Atem zu, dann wandert sie zum Herzschlag. Wieder zurück ins große, ungeteilte, zerstreute Wahrnehmen.

Ein Gedanke kommt: Das muss es wohl sein. Ein gieriger Atemzug durchfährt meinen Körper. Für einen Moment steht alles still. Ich lasse alles los. Alles löst sich auf.

Ein Funke blitzt in Stille auf. Das Körnchen Licht im Nichts erstrahlt. Der leere Raum dehnt sich aus. Die Zeit entsteht, der Weg erscheint. Das reine Sein ist zweigeteilt: Das eine sieht, das andre zeigt. Das eine hört, das andre spricht. Das eine spürt, das andre sticht. Das Jetzt zerfällt in war und werden. Leben bringt Geburt und Sterben. Schlechtes folgt dem Guten nach. Glück und Leid sind ausgemacht.

3

Ein paar Tage später sitze ich in einem Waschsalon an der Ecke und schreibe unzusammenhängende Zeilen auf die Rückseite eines Flyers, den ich vom schwarzen Brett gerissen habe. Der Flyer wirbt für eine Autowaschanlage, Wischiwaschi.

Ich sitze vor einer grauen Maschine, starre in die riesige Trommel und sehe der Wäsche beim Schleudern zu. Die Idee, mir eine Waschmaschine zu holen, habe ich wieder verworfen. Ich will den Kasten nicht in der Wohnung stehen haben. Stattdessen habe ich diesen Waschsalon hier entdeckt. Eine gute Alternative, urteile ich. Hier lassen die Leute einen in Ruhe.

Ich bleibe den gesamten Waschgang über im Salon und lausche dem Geräusch der Maschinen. Manchmal schließe ich die Augen und döse vor mich hin. Am anderen Ende des Raums sitzt ein Bauarbeiter und schläft. Seine Maschine ist längst fertig. Ich wecke ihn nicht. Vielleicht ist es das erste Mal seit Langem, dass er durchschlafen kann.

Ich widme mich wieder meiner Maschine. Die roten Zahlen zeigen noch zwanzig Minuten. Danach werde ich die Sachen in den Trockner schmeißen und warten, bis sie trocken sind. Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme und tauche in die auditive Monotonie ein.

Ich höre nicht, wie sie hereinkommt. Ich muss eingenickt sein. Als ich irgendwann die Augen öffne, sitzt sie da, kaut Kaugummi, hört Musik. Kurz rasiertes Haar, schmales Gesicht und die größten Augen, die ich je gesehen habe. Sie bewegt den Kopf rhythmisch zur Musik, ihr Blick geht an mir vorbei.

Ich lasse sie nicht aus den Augen. Irgendwann sieht sie rüber, schaut mich direkt an und lächelt. Ich lächle zurück und blicke weg.

Meine Maschine blinkt Null. Ich schlendere rüber und packe die Sachen in den Trockner. Der Bauarbeiter ist nicht mehr da.

Ich überlege, wie ich mit ihr ins Gespräch komme. Mir fällt nichts ein. Ich setze mich wieder hin. Doch dann kommt der Geistesblitz. Ich frage sie nach einem Kaugummi. Sie nimmt den Ohrstöpsel heraus.

»Hättest du einen Kaugummi für mich?«, wiederhole ich.

Sie kramt in ihrer schwarzen Lederjacke, holt Zigaretten heraus, sucht weiter, findet das Richtige, steht auf, kommt zu mir, macht die Dose auf und sieht mich an. Ich strecke die Hand aus. Sie kippt die Dose, klopft mit dem Zeigefinger drauf. Ihre Nägel sind knallrot.

»Noch eins?«

Ich nicke. Ein weiteres winziges Kissen landet auf meiner Handfläche. Die beiden Dragees leuchten grün. Ich stopfe sie mir in den Mund. Eine Explosion von intensivem Apfelaroma.

»Mein Lieblingsgeschmack«, sagt sie ernst, steckt die Dose zurück in die Jackentasche und setzt sich neben mich.

Wortlos sitzen wir da. Der süßsäuerliche Geschmack scheint den ganzen Raum zu erfüllen. Ich bin berauscht. Aus ihren Kopfhörern dringen dumpfe, rasendschnelle Beats.

»Was hörst du da?«

Sie nimmt einen Stöpsel heraus und steckt ihn mir ins Ohr. Ich schließe die Augen, drücke den Zeigefinger ins andere Ohr, höre wildes Techno. Sie wippt mit dem Fuß und lächelt mich an. So sitzen wir eine Weile da, und mir gefällt langsam, was ich höre. Ich merke, wie der Geschmack in meinem Mund verblasst.

Der Trockner blinkt. Mein Rucksack ist groß genug, damit alles problemlos reinpasst. Sie schaut zu, wie ich die Sachen reinstopfe, und lässt riesige Gummiblasen aus ihrem Mund wachsen. Man erwartet jederzeit einen lauten Knall, doch ihre Lippen lassen die Blasen lautlos in sich zusammenfallen.

Ich winke zum Abschied und sage kein Wort. Sie verabschiedet sich mit einem stummen Lächeln.

4

Draußen weht ein lauer Wind. Ich lade die Wäsche zu Hause ab und gehe in den Park. Dort drehe ich meine Runde. Es ist ein Schlosspark, weitläufig und wochentags menschenleer. Zwei kleine Seen, Schotterwege. Abends riecht die Luft nach Freiheit und Nostalgie.

Da ich keine Uhr bei mir habe, weiß ich nur ungefähr, wie spät es ist. Die Parktore werden Punkt zehn geschlossen.

Ich frage mich, wer die fleißigen Torwächter sind, die tagein, tagaus die zahlreichen Tore öffnen und abends wieder zusperren. Einsame Junggesellen? Rentner, die dem trauten Heim und ihren Frauen entfliehen wollen? Sind die Torwächter eine verschworene Gemeinschaft, ein geheimer Bund, ein eingetragener Verein? Veranstalten sie regelmäßige Ausflüge und treffen sich im Stammlokal, um über die neuesten Tricks zu sprechen, mit denen gewiefte Spaziergänger versuchen, die heiligen Tore nach Sperrstunde zu überwinden? Ich jedenfalls habe noch nie einen Torwächter bei der Ausübung seiner Pflicht gesehen. Doch die Tore werden pünktlich verschlossen sein, das weiß ich. Und so beeile ich mich, rechtzeitig den Park zu verlassen.

Zu Hause falte ich die Wäsche ordentlich zusammen. Ich gebe mich der Aufgabe völlig hin. Diese Hingabe musste ich erst lernen. Doch wer viel Zeit hat, lernt bereitwillig.

Das Licht lasse ich aus. Ich nutze nur eine alte Stehlampe, die ich mal am Straßenrand aufgelesen habe. Der Schirm aus vergilbtem Papier lässt ein angenehm warmes Licht hindurch, und obwohl nur zwei der drei Glühbirnen funktionieren, ist es hell genug.

Ich gehe in die Küche, drehe das Wasser auf, warte, bis es kalt wird, und fülle ein Glas bis zum Rand. Langsam, Schritt für Schritt, gehe ich zurück und nutze die kurze Strecke, um mich in Geduld zu üben.

Ich halte das Glas mit beiden Händen fest und lasse es für keinen Moment aus den Augen. Meine Schritte sind weich, schwebend. Barfuß gleite ich über den warmen Holzboden. Ich lasse mir viel Zeit. Das Wasser im Glas steht still, unsichtbar bewegen sich die Moleküle, doch ich spüre jeden Stoß.

Meine Hände werden schwer vor Anspannung. Ich starre die Flüssigkeit an, bis ich im Tunnel bin und mich gänzlich zu einem Teilchen im Wasser verwandle. Dass ich mich in Zeitlupe durch den Raum bewege, weiß ich da nicht mehr. Es muss von außen ziemlich komisch aussehen.

Irgendwann bleibe ich stehen. Zeitlos stehe ich da, von den Wassermassen verschlungen und aufgelöst.

Ich merke, wie schwer ich atme und lasse mich auf den Boden sinken. Ich beobachte, wie sich das Glas hebt, immer näher kommt und wie sich schließlich eine Woge flüssiger Genugtuung in meinen Mund ergießt. Ich schließe die Augen. Die ganze Anspannung fällt von mir ab.

5

Als ich wach werde, ist es taghell. Ich liege auf dem Boden, das Glas steht neben mir. Ich spüre wahnsinnigen Durst und kippe das Wasser in mich hinein.

Ich wasche mir das Gesicht und gehe spazieren. Obwohl es noch kühl ist, brennt die Sonne vom Himmel. Im Park setze ich mich auf eine Bank und beobachte, wie es zunehmend belebter wird. Die Leute haben es eilig. Sie flitzen durch die Gegend, lassen Gerüche und Müll zurück, ihre Gespräche flirren mir in den Ohren.

Gegen Mittag wird es wieder ruhiger. Ich gehe nach Hause und packe ein paar Klamotten in den Rucksack. Eigentlich sind sie noch sauber, doch ich will etwas dabeihaben.

Im Waschsalon werfe ich die Sachen in die Maschine, starte das Programm und setze mich davor. Ich schließe die Augen und döse ein.

Ich spitze die Ohren, als sich jemand neben mich setzt. Ich horche. Die Maschinen übertönen jedes Lebenszeichen. Ich spüre nur, dass da jemand ist.

»Kaugummi?«, fragt sie aus dem Nichts.

Ich öffne die Augen und strecke ihr die Hand entgegen. Sie gibt mir die grüne Pille. Schweigend sitzen wir da, kauen und starren hypnotisiert in die drehende Trommel.

»Bis morgen«, sagt sie nach einer Weile, steht auf und geht.

Ich habe mir angewöhnt, nicht viel zu denken, und so lasse ich die Begegnung unkommentiert. Mein Kopf bleibt ruhig und angenehm leer.

6

Am nächsten Tag bin ich wieder zur Stelle. Als ich ankomme, sitzt sie schon da, einen Kaffeebecher in der Hand.

»Komm mit«, sagt sie zur Begrüßung.

Ich bin nicht überrascht. Wir gehen nur wenige Minuten. Auf einer vergilbten Rasenfläche am Bahnhofsplatz sind Zelte aufgebaut. Ich sehe eine Gruppe Punks, zwei Mädels, drei Jungs. Sie trinken Bier und prosten uns zu, als wir uns dazusetzen.

»Du musst nichts von dir erzählen«, sagt sie.

Einer hält mir eine Flasche hin. Ich lehne ab.

»Keine Sorge, ich trinke auch nichts«, beruhigt sie mich.

Ich bleibe über Nacht. Es ist lauwarm, und so schlafe ich unter freiem Himmel. Die Stadt ist laut, ihr Stimmengewirr hält mich lange wach. Ich liege auf einer Isomatte und versuche, Sterne am Himmel auszumachen. Die anderen sind in ihren Zelten, jemand schnarcht.

Einmal schaut sie kurz zu mir hinaus und wünscht mir gute Nacht. Ich ziehe mir die Decke bis zur Nase und gleite irgendwann in einen traumlosen Schlaf.

7

Es ist noch halbdunkel, als sie mich weckt.

»Wir gehen an den Bach.«

Mit einem Lächeln gibt sie zu verstehen, dass ich mitkommen soll. Ich bin sofort hellwach. Die Stadt ist noch im Dämmerschlaf.

Unsere kleine Truppe ist keine fünf Minuten unterwegs, als wir den großen Park erreichen. Über ein weites Feld, durchzogen von Bäumen und Sträuchern, plätschert das Wasser. Der Bach ist nicht sehr tief, dafür aber ziemlich breit. Die aufgehende Sonne spiegelt sich im glasklaren Wasser, ich kann jeden Stein auf dem Grund erkennen.

Die Punks ziehen sich aus und werfen ihre Klamotten auf einen Haufen. Ohne lange zu überlegen laufen sie ins Wasser und kreischen wie am Spieß. Das Wasser muss eiskalt sein. Sie winkt mich zu sich, doch ich zögere. Sie lachen wie verrückt und kämpfen mit wilden Bewegungen gegen die Strömung. Schließlich kann ich es mir nicht entgehen lassen, ich ziehe mich aus und mache zaghafte Schritte Richtung Wasser.

Der erste Kontakt lässt mich erschauern. Ich ziehe den Fuß instinktiv zurück. Probiere es wieder. Gehe langsam hinein und lege mich in die Strömung. Die ersten Sekunden kann ich nicht atmen, meine Lungen ziehen sich zusammen vor Kälteschock. Doch es wird schnell erträglich. Meine Euphorie steigt.

Die anderen sind schon weiter stromabwärts. Ich lasse mich auch treiben, strecke die Füße hoch, liege flach im Wasser, nur mein Kopf ragt heraus. Der Himmel über mir ist goldblau. Ich bewege mich keinen Zentimeter, werde zur Mumie, lasse mich treiben, lächle in den Himmel hinein. Ich fühle mich wach und glücklich, ein angenehmer Schauder jagt den nächsten, ich stehe unter Hochspannung aus reiner Energie.

Kurz vor einer Brücke richte ich mich auf und laufe aus dem Wasser. Die anderen liegen auf dem Rasen und saugen die ersten Sonnenstrahlen auf, wie Schmetterlinge im Morgentau. Ich geselle mich dazu. Sie streckt die Hand nach mir aus und legt sie auf meine Schulter. Ich lächle, schließe die Augen und genieße die kosmische Leichtigkeit, in der mein Körper schwebt. Fast schwerelos vergesse ich alles um mich herum und beobachte gedankenlos die helle Stille.

Wir sind im Nu trocken, die Sonne leistet ganze Arbeit. Langsam traben wir zurück zum Kleiderhaufen. Sie geht neben mir.

»Jetzt geht’s zur Jagd«, sagt sie feierlich.

»Wen jagt ihr denn?«

»Das wirst du gleich sehen.« Sie lächelt geheimnisvoll.

Ich werde nervös, als wir den Park verlassen. Immer mehr Menschen strömen uns entgegen, die Stadt füllt sich. Es wird heiß. Wir kommen an einem Obststand vorbei, ich nutze die Gelegenheit und hole mir Bananen und eine Tüte Weintrauben. Sie nascht mit.

»Ich hab ewig keine Weintrauben mehr gegessen«, sagt sie. »Das letzte Mal in Italien, glaub ich. Da war ich auf Capri. Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass der Supervulkan dort explodiert. Weißt du, dass es dort einen riesigen Vulkan unter der Erde gibt? Die Vulkanologen meinen, der wird in absehbarer Zeit hochgehen. Dann ist die ganze Gegend um Neapel rum futsch.«

Sie macht große Augen und steckt sich eine Traube in den Mund.

»Was hast du auf Capri gemacht?«

Sie überlegt und schaut in die Sonne.

»Getanzt. In der Sonne gesessen. Gefastet. Einfach gelebt und mir keine Sorgen um nichts gemacht.«

»Gefastet? Warum das?«

»Ich hatte ein paar Sachen zu heilen«, meint sie nachdenklich.

8

Mittlerweile sind wir auf dem alten Marktplatz im Stadtzentrum angekommen.

Sie lassen ihre Rucksäcke mitten in der Fußgängerzone fallen und packen aus. Einer holt ein Tamburin hervor, ein anderer Jonglierbälle, die Nächste farbige Bänder. Sie breiten ein schwarzes Tuch vor sich aus und legen ein paar Münzen darauf. Dann versammeln sie sich im Kreis, stecken die Köpfe zusammen und murmeln wie im Gebet. Ich stehe gespannt daneben und beginne zu verstehen, was sie vorhaben. Sie wollen eine Show zeigen. Das meinte sie also mit Jagd. Eine Jagd auf Touristen und ihre Spendierlaune.

Die Trommelei geht los. Eine von uns summt eine Melodie, die irgendwie nach Wüste klingt. Die Bänder flattern, die Bälle fliegen durch die Luft. Und sie? Sie tanzt.

Sie trägt ein bauchfreies Shirt, bewegt sich rhythmisch und weich, fängt jeden Trommelschlag auf, verwandelt ihn in Körperbewegung. Der dumpfe Schlag wird zum weichen Tropfen, fließt dahin, verbindet sich zu einem Strom aus Gesten und Gesichtsausdrücken, wird intensiver, wenn der Rhythmus schneller wird, gleitet sanft dahin, wenn die Töne langsam kommen.

Ich staune und genieße die Darbietung. Leute bleiben stehen, in ihren Bann gezogen, zücken Handys, tuscheln. Manche werfen Münzen auf das schwarze Tuch. Als sie eine Pause macht, frage ich sie, wo sie so tanzen gelernt hat.

»Ich hab’s mir einfach vorgestellt und losgetanzt.« Sie lächelt und tanzt weiter.

Langsam wird es unerbittlich heiß. Der Asphalt glüht, die Leute hasten vorbei. Die Truppe sammelt das Tuch ein, die Münzen glänzen in der Sonne. Wir verlassen das Gewusel und steuern den nächsten Supermarkt an. Sie holen sich Bier, Chips und Sandwiches. Ich schnappe mir ein Eis aus der Kühlbox an der Kasse. Sie nimmt sich auch eins.

Wir gehen in den alten botanischen Garten. Es ist erstaunlich ruhig hier, die Menschen scheinen woanders unterwegs zu sein. Wir setzen uns in den Schatten, schlecken unser Eis und grinsen uns an. Die anderen kühlen sich mit Bier ab. Müde legen wir uns hin und halten Mittagsschlaf.

Als ich wieder aufwache, sind sie verschwunden. Ich reibe mir die Augen und überlege, ob ich sie an ihrem Zeltplatz aufsuchen soll. Doch ich habe Hunger und will mich duschen, also mache ich mich auf den Heimweg.

Zu Hause springe ich unter die Dusche, esse eine Kleinigkeit, lasse ein paar Minuten den Staubsauger laufen, beobachte die Terrasse gegenüber, und als dort nichts passiert, lege ich mich hin und schlafe ein.

Auf halber Strecke zur Bewusstlosigkeit, in der Zwischenwelt, sehe ich sie, wie sie wild tanzt und mich anlächelt. Auf ihrem Bauch sammeln sich kleine Schweißtropfen um ihren Bauchnabel herum, wie Tau im Blumenkelch fließen sie zusammen, und ich spüre im Traum einen unbändigen Durst, ich lechze nach Wasser. Da wache ich auf in Dunkelheit, schlendere in die Küche und hole mir ein kaltes Glas Wasser.

Ich liege noch lange wach und rufe mir ihren Tanz ins Gedächtnis. Ich ärgere mich, dass sie mir den Schlaf raubt. Und bin froh, als mein Kopf abschaltet, während ich innerlich zum Takt des Tamburins nicke.

9

Ich schlafe ungewöhnlich lange, es müssen zehn Stunden sein, die ich weg bin. Die Erinnerung an die Punks fühlt sich unwirklich an. Ich bin voller Zweifel, ob das alles überhaupt passiert ist. War ich wirklich mit ihnen unterwegs? Habe ich im Bach gebadet? Hat sie mir etwas von einem Supervulkan erzählt? Alles erscheint wie ein Traum.

Ich drehe ein paar Runden in der Wohnung, mache Liegestütze, Kniebeugen, spanne den Bauch an, atme tief durch, lege mich auf den Boden, stütze mich auf die Unterarme und halte die Spannung, ganze zwei Minuten lang. Danach fühle ich mich frisch und voller Tatendrang.

Doch schon nach kurzem Überlegen merke ich, dass ich gar nichts tun will. Meine Gedanken kreisen immer noch um sie und die lustige Truppe. Soll ich sie besuchen? Ich beschließe, noch bis morgen zu warten, um nicht aufdringlich zu wirken.

Ich suche mir eine Beschäftigung. Ja, vor solchen Problemen steht man, wenn es nichts mehr zu tun gibt. Ich könnte natürlich in der Stille sitzen, aber das hebe ich mir für später auf. Ich habe alle Zeit der Welt.

Ich öffne das Fenster und atme den Sommergeruch ein. Vögel zwitschern, das leise Rauschen der Stadt mischt sich mit dem Nieselregen, der die Luft reinigt. Ich warte, bis der Regen aufhört, dann gehe ich hinaus. Ich trage Barfußschuhe und spüre jedes Steinchen auf dem Asphalt.

Ich schlendere durch die Gegend, sehe fröhliche Gesichter, traurige Gesichter, Mädchenaugen, Sonnenbrillenaugen, höre tiefe Stimmen, laute Stimmen, sehe Autos, Kinder, Fahrräder, Ampeln, Füße, Arme mit Tragetaschen, Hunde, die einander beschnüffeln, Aufbruchstimmung, Konsumlaune, Traurigkeit. Meine Stimmung schwankt von euphorisch bis deprimiert, von Nostalgie bis Endzeitstimmung. Das passiert mir oft, wenn ich lange durch die Stadt gehe, ich weiß auch nicht warum.

An einem Kiosk kaufe ich einen Eistee und setze mich auf eine Bank am Kanal. Unzufriedenheit nagt an mir, und ich frage mich, woher sie kommt. Menschen laufen vorbei, Spaziergänger, Pärchen, Freunde.

Bin ich einsam? schießt es mir durch den Kopf. Manchmal schon, gebe ich ehrlich zu. Aber gleichzeitig liebe ich es, allein zu sein. Schon oft habe ich nach anfänglicher Nähe wieder Abstand gesucht, weil es mir dann doch zu verbindlich wurde, zu persönlich. Vielleicht ist das mein Schicksal, im Spannungsfeld zwischen den beiden Extremen zu stehen. Und vielleicht sollte ich es einfach annehmen.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen und lasse die Einsamkeit bei mir verweilen. Dann zieht sie weiter und ich mache mich ebenfalls auf den Weg.

10

Im Schlosspark ist wenig los. Ein paar Enten schwimmen im Teich, ein paar Touristen laufen umher und machen Fotos.

Ich bleibe vor einer Statue stehen und schaue aufmerksam in ihr Gesicht. Ich sehe direkt in ihre Augen, es ist eine junge Frau aus Stein, die ich anstarre, eine Kriegerin mit einem schlanken Körper. Auf dem Kopf trägt sie eine Krone aus Schlangen, in der Hand hält sie eine Lanze. Sie ist nicht lebendig, doch sie macht Eindruck.

Eigentlich ist sie nur Stein, doch die Vorstellungskraft verleiht ihr Leben, dichtet eine Geschichte, wühlt in Erinnerungen, verknüpft Wissen mit Fantasie. So entsteht das Bild einer Kriegerin, die für eine gerechte Sache kämpft. Und doch ist es nur Stein, von einem Künstler geschickt in Szene gesetzt.

So ist eigentlich alles um mich herum Stein und Wasser, Erde und Luft, Atome und Energie. Ich bin Information und Energie, als Mensch bezeichnet, biologisch Säugetier, aus Molekülen bestehend, mit Bakterien versetzt, dem Tode geweiht.

Unglaublich, aber wahr: Ich werde sterben.

Die Erkenntnis ist nicht neu, doch als ich vor der Statue stehe und ihr in die Augen sehe, trifft mich dieser Gedanke irgendwo zwischen Bauch und Brust. Verwundet gehe ich weiter, laufe meine gewohnte Runde, blicke über den See, lasse mich treiben, denke an morgen, denke an nichts.

Ich verlasse den Park, laufe stundenlang durch die Straßen, nehme irgendwann die Tram und steige am Bahnhof aus. Es ist bereits dunkel, als ich sie sehe.

»Wir fahren morgen auf die Insel. Kommst du mit?«, fragt sie als Erstes.

Ich frage, welche Insel, und als sie Nordsee sagt, bin ich sofort dabei. Ich war lange nicht mehr am Meer.

Sie fragt, ob ich ihr meine Wohnung zeigen will. Wir nehmen die Tram, schweigen während der Fahrt, gehen wortlos die Treppe hinauf.

»So leer«, sagt sie, als wir in der Wohnung sind. »Genauso hab ich’s mir vorgestellt.«

Sie bittet um ein Handtuch und verschwindet im Bad. Ich überlege, was ich ihr anbieten kann. Tee müsste ich noch irgendwo haben.

Als sie zurückkommt, hat sie sich das Handtuch umgebunden. Wir sitzen auf dem Futon und sehen uns lange in die Augen.

»Leg dich hin«, flüstert sie. »Lass uns kennenlernen.«

11

Am nächsten Morgen stehen wir mit dem Wecker auf, frühstücken etwas Obst und machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Die anderen warten schon am Bahnsteig. Der Zug fährt pünktlich ab. Wir machen es uns im leeren Abteil bequem und belagern zwei Tische. Müde schlafen wir ein. Die Fahrt ist kurz, und schon bald schnuppern wir die Meeresluft.

Wir marschieren zu einem Platz, den die Gemeinde für die bevorstehende Aktion freigegeben hat. Punks aus ganz Deutschland sind auf die Insel gekommen, um für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu demonstrieren. Wir sind ein Teil davon.

Unser Gepäck ist überschaubar, das meiste machen die Zelte aus. Es ist heiß, also beeilen wir uns. Die große Wiese ist übersät mit Zelten und provisorischen Holzbaracken. Es wird gesungen, getanzt, getrunken. Punks schieben Einkaufswagen voller Pfandflaschen zum Supermarkt gleich um die Ecke.

Wir suchen uns ein freies Fleckchen und bauen im Handumdrehen unsere Zelte auf. Dann legen wir uns hin und ruhen uns aus. Wir haben Zeit und etwas Proviant dabei.

Demonstrieren sei nicht ihr Ding, sagt sie. Sie wolle einfach ein bisschen Geld mit ihren Auftritten verdienen, genug fürs Essen. Mehr brauche sie nicht. Die Welt verändern? Nein danke.

»Du findest es also gut, wie es gerade läuft auf der Welt?«, frage ich.

»Nicht gut, nicht schlecht. Man kann alles so oder so sehen. Also lebe ich einfach.«

»Stellst du dir nie die Frage, warum du eigentlich hier bist? Was deine Bestimmung ist? Der Sinn des Lebens?«

»Klar, manchmal schon. An schlechten Tagen. Aber wer weiß schon, ob es überhaupt einen Sinn gibt?«

Am Abend ziehen wir ins Stadtzentrum. Die Straßen sind voll, überall Menschen, die sich ein paar unbeschwerte Tage am Meer gönnen. Sie sitzen in überfüllten Lokalen, essen Eis, trinken überteuerte Cocktails, saugen die Atmosphäre auf.

Wir stellen uns mitten in die Fußgängerzone. Ich soll mitmachen, indem ich mit einem Hut durch die Menge gehe und freundlich lächle.

Die anderen geben alles. Sie tanzen und trommeln, was das Zeug hält. Der Hut füllt sich langsam mit klingender Münze. Es ist kein großer Hut, aber nach einer knappen Stunde reicht es für uns alle.

Zufrieden packen wir zusammen und ziehen uns in eine Seitenstraße zurück, um die Beute zu zählen. Es ist weniger als erhofft, aber genug für heute.

Wir steuern den nächsten Supermarkt an. Ich halte nach Obst Ausschau, die anderen stürmen die Getränkeregale. Dann nimmt sich jeder etwas zu essen. Sie holt sich ein paar eingeschweißte Sandwiches, ich habe Bananen und Himbeeren im Korb.

Zurück auf dem Zeltplatz machen wir uns über das Essen her und liegen kurz darauf satt und zufrieden in der Abendsonne.

»Kann das Leben nicht immer so herrlich sein?«, ruft sie in den Himmel.

»Die Aufs und Abs gehören dazu«, sage ich. »Mal rauf, mal runter. Wie auf einer Achterbahn.«

Sie schaut mich an und grinst. Sie hat Grünzeug zwischen den Zähnen, aber ich sage nichts.

»Was machst du eigentlich den ganzen Tag, wenn du allein in deiner Wohnung bist?«

Die Frage bringt mich in Verlegenheit. Warum, weiß ich selbst nicht. Persönliche Fragen machen mich nervös, als müsste ich mich rechtfertigen. Eine meiner Schwächen.

»Ich sitze. Lese manchmal. Und staubsauge ziemlich oft.«

»Wie oft denn?«

Ich überlege. Ich will sie nicht abschrecken.

»So ein-, zweimal am Tag. Aber nicht jeden Tag.«

Sie schaut mich groß an.

»Warum das denn? Wird’s so schnell schmutzig bei dir?«

»Ich mag das Geräusch. Das Summen des Staubsaugers. Es entspannt mich.«

»Okay. Aber warum gerade ein Staubsauger?«

»Kennst du weißes Rauschen? Wenn du zum Beispiel am Fluss sitzt und das Wasser rauscht. Oder wenn es regnet und du unter der Decke liegst. Das beruhigt doch, oder? So ist es bei mir mit dem Staubsauger. Es trifft einen Nerv, bringt mich zur Ruhe. Wenn ich das höre, hab ich das Gefühl, dass alles gut ist. Die Welt ist dann in Ordnung.«

Sie denkt kurz nach und nickt. Sie versteht.

»Und was für Geräusche magst du?«

»Donner«, sagt sie ohne zu zögern. »Ich mag, wenn’s so richtig kracht.«

Das R rollt wie ein Donnerschlag aus ihrem Mund.

»Das hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, du stehst eher auf Kaminfeuer. Auf was Leises, Weiches, Unaufdringliches.«

»Wirk ich so weich auf dich?«, fragt sie erstaunt.

»Ja, schon. Du bist zwar cool nach außen, aber innen bist du weich. Und das gefällt mir.«

Ich sage es wie ein Kompliment, und sie nimmt es auch so auf.

»Vielleicht denkst du das nur, weil ich eine Frau bin?«

»Kann sein. Ich tu mich leichter mit Frauen. Ich kann mich dann einfacher öffnen, fühl mich entspannter. Mit Männern bin ich oft angespannt, als müsste ich irgendeine Haltung wahren. Ich weiß nicht, ob du das verstehst.«

»Vielleicht liegt’s daran, dass du selbst eine starke weibliche Seite hast?«

»Das kann gut sein.«

Dass ich mit Frauen besser auskomme, habe ich schon lange gemerkt. Vielleicht, weil sie einen eher so akzeptieren, wie man ist. Vielleicht ist das das Besondere an Frauen. Wenn ich einen besten Freund hätte, dann wäre es wahrscheinlich eine Frau.

»Fühlst du dich in meiner Nähe wohl?«, fragt sie.

»Na klar. Und wie.«

Ich gebe ihr einen Kuss. Sie kichert.

»Dann ist ja gut. Ich fühl mich nämlich auch wohl mit dir.«

Es wird schnell kalt, jetzt, wo die Sonne untergegangen ist. Wir kriechen ins Zelt und kuscheln uns ein. Ich freue mich auf die nächsten Tage, obwohl ich keine Ahnung habe, was wir machen werden. Eine gute Übung im Loslassen.

In der Nacht regnet es heftig. Immer wieder werde ich wach und prüfe, ob das Zelt dicht ist. Zum Glück hält alles.

12

Am nächsten Tag ziehen wir mit einer Demo durch die Stadt. Die Leute schauen verdutzt, manche rufen unfreundliche Worte. Ich fühle mich fehl am Platz. Demonstriert habe ich noch nie.

Es ist eine kleine Prozession, die sich durch die Straßen bewegt. Nach zwanzig Minuten ist alles vorbei.

Wir stellen uns in der Fußgängerzone auf, rufen Friedensparolen und antikapitalistische Slogans. Die Passanten wirken unbeeindruckt. Sie betrachten uns wie Tiere im Zoo, mit Abstand und einer Mischung aus Skepsis und Respekt vor dem Unberechenbaren. Einige wenige wollen diskutieren, streiten, ihren Standpunkt klarstellen. Unser Wortführer, ein kleiner Mann mit Irokesenschnitt, ist ziemlich beschäftigt.

»Wohin hat uns der Kapitalismus geführt?«, ruft er. »Die Armen werden immer ärmer, die Reichen reicher und mächtiger. Ist das gerecht?«

»Geh arbeiten!«, schallt es aus der Menge.

»Wir sind die Stimme der Gerechtigkeit! Lasst uns eine Welt schaffen, in der die Erde nicht ausgebeutet wird und die Menschen leben können, ohne ständig ums Überleben kämpfen zu müssen! Lasst uns teilen, die Erde hat genug für alle!«

Ein Mann tritt entschlossen aus der Menge.

»Wenn alle arbeiten, reicht es auch für alle! Aber wenn wir euch durchfüttern müssen, läuft was falsch. Das nenn ich ungerecht! Ihr seid doch nur zu faul zum Arbeiten und angeblich so solidarisch. Scheinheilig und verlogen ist das!«

Er hat sich abreagiert und zieht sich zurück. Unser Wortführer bleibt ruhig.

»Wir sind hier, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Haben oder Sein, Kampf oder Frieden, Tod oder Leben, frag ich euch! Entscheiden wir uns für den Frieden, für das Leben, für das Sein!«

Dann lässt er Musik spielen. Alle Gegenargumente verhallen im Getrommel und Gesang.

Die Demo ist geglückt, so zumindest mein Eindruck. Sie lächelt und scheint derselben Meinung zu sein. Sie singt, grölt und ist glücklich. Ich denke an meine leere Wohnung, an die Stille dort. Alles so weit weg, so unwirklich.

13

Nach der Demo gehen wir zum Strand. Es ist herrlich warm, ein sanfter Wind streichelt unsere Haut. Wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen hinter einer Düne. Der Strand ist unendlich lang. Es gibt genug Platz, damit sich die Leute aus dem Weg gehen und ungestört sein können.

Sie will ins Wasser. Ich komme mit.

Wir ziehen uns aus und rennen so schnell wir können den tosenden Wellen entgegen. Mit voller Wucht springen wir ins eiskalte Wasser. Der Schock ist kurz, dann gewöhnt sich der Körper an die Kälte. Die Nordsee ist eben kein Mittelmeer, man braucht etwas Mut, um reinzugehen.

Sie grölt, lacht, schwingt die Arme, taucht unter, wieder auf, schlägt um sich wie ein wildes Tier. Dann schwimmt sie. Ich drehe entspannt meine Runden und beobachte sie.

»Schwimm nicht zu weit raus!«

Sie reagiert nicht, bleibt aber in der Nähe. Die Sonne blendet. Ich schließe die Augen, lege mich auf den Rücken und lasse mich treiben. Meine Ohren sind unter Wasser. Es ist laut hier unten: Brummen, das Rauschen der Wellen, Fischerboote in der Ferne, ihre Stimme, dumpf und verzerrt, wie aus einer anderen Welt. Ich richte mich auf.

»Ich muss morgen zurück«, sagt sie.

Sie ist herangeschwommen und schaut mich traurig an.

»Meine Schwester hat angerufen. Sie braucht Hilfe mit der Kleinen. Sie ist alleinerziehend und muss zu Bewerbungsgesprächen. Ich soll auf die Kleine aufpassen.«

Ich stelle mir vor, wie sie mit dem Kind spielt, und muss lächeln.

»Soll ich mitkommen?« Ich will eigentlich nicht bleiben ohne sie.

»Nein, bleib ruhig. Dort werden wir uns die nächsten Tage sowieso nicht sehen.«

Ich merke, dass Protest zwecklos ist. Ich spüre etwas, das ich nur zu gut kenne: Widerstand. Eine vertraute Reaktion. Eine weitere Gelegenheit, daran zu arbeiten.

Ich stehe still, wie angewurzelt, und zittere leicht. Sie umkreist mich, schaut mir tief in die Augen. Dann kommt sie näher, umschlingt mich mit Armen und Beinen, küsst mich. Ihre Lippen sind kalt, hart, salzig. Ich halte sie fest und drehe mich mit ihr im Kreis. Sie jauchzt. Irgendwann wird es auch ihr zu kalt. Wir schwimmen zurück ans Land.

Am nächsten Morgen bringe ich sie zum Bahnhof. Sie winkt lange, bevor sie einsteigt. Ich gehe den Bahnsteig entlang und sehe mich mehrmals um. Sie erscheint noch einmal in der offenen Tür und hebt die Hand. Ich winke, gehe weiter, werfe ihr einen letzten Blick zu. Sie steht immer noch da und schickt mir einen Handkuss. Ich erwidere ihn. Dann gehe ich weiter und schaue nicht mehr zurück. Bye bye, bis auf bald.

14

Das war ein kurzes Intermezzo. Ich hatte mich riesig auf die Zeit mit ihr gefreut, wir zwei unter freiem Himmel. Aber es kommt eben oft anders. Es kommt, wie es kommen muss. Eine Lektion, die das Leben einem immer wieder erteilt. Das Leben ist ein geduldiger Lehrmeister. Ich habe noch zu wenig Geduld. Aber ich mache Fortschritte, seit ich regelmäßig das Sitzen übe.

Die anderen nehmen mich herzlich auf. Jetzt, wo sie weg ist, gibt es kein Medium mehr zwischen uns. Wohl oder übel muss ich mich fügen und mich in ihre Mitte wagen. Eigentlich bin ich menschenscheu. Und die Art, wie diese Menschen sind, ist mir fremd. Ich muss mich auf sie einlassen. Es fällt mir nicht leicht. Ich stelle schnell fest, dass ich sie kaum kenne.

Sie wissen, dass ich keinen Alkohol trinke, also haben sie alkoholfreies Bier für mich besorgt. Wir sitzen auf der Wiese, die von all der Trampelei inzwischen ziemlich mitgenommen aussieht, und trinken auf ihre gute Heimreise. Wahrscheinlich schaukelt sie jetzt friedlich auf ihrem Platz und träumt vom Meer.

Wir stoßen an. Jemand spielt Gitarre. Die Sonne brennt rote Nacken, der Platz ist rappelvoll, es ist laut wie auf einem Rockkonzert und genauso archaisch, wie man es sich vorstellt. Was ich nicht so mag, ist der Müll, der überall herumliegt. Zwar hat die Stadt Container aufgestellt, aber kaum jemand nutzt sie. Was ihnen zugutezuhalten ist: Jeden Abend geht jemand durch, sammelt alles in einen Einkaufswagen und karrt es zu den Containern.

Um Toiletten hat sich die Stadt auch gekümmert. Es stehen mobile Klos auf dem Gelände. Was erstaunlich ist: Sie werden von den Leuten hier penibel sauber gehalten. Egal wie besoffen sie sind, die Klos werden so hinterlassen, wie sie vorgefunden wurden. Ich weiß nicht, wie sie das hinkriegen. Später erzählt mir jemand, das sei eine der wenigen Regeln, die die Veranstalter aufgestellt haben. Und aus Solidarität halten sich alle daran. Ihren Müll könnten sie ja eigentlich auch gleich ordentlich entsorgen. Vielleicht heben sie sich das fürs nächste Mal auf. Man muss die Leute ja nicht überfordern.

15

Ich lerne die beiden Mädels und die drei Jungs besser kennen.

Jenny trägt eine Zahnspange und sieht aus wie ein Teenager. Sie hat eine laute Stimme und singt leidenschaftlich gern. Ihre Augen sind blau, sie ist großflächig tätowiert, kräftig gebaut und sprüht vor Energie. Sie zappelt ständig und redet ohne Pause. Ich mag sie auf Anhieb.

Das andere Mädchen heißt Annabelle, aber alle nennen sie nur Ann. Sie ist dünn, hat lange schwarze Haare, die sie offen im Gesicht trägt, einen dunklen, durchdringenden Blick und einen strengen Mund, den sie feuerrot schminkt. Sie lacht wie eine Hexe, ist aber sonst zurückhaltend. Sie lässt andere reden und sagt nur etwas, wenn sie lange nachgedacht hat.

Mir fällt auf, dass sie ein Buch dabei hat, in dem sie immer wieder liest. Ich nehme mir vor, herauszufinden, was es ist.

Ann ist die Jüngste in der Gruppe und sieht gar nicht wie ein Punk aus, eher wie eine Waldfrau. Sie trägt viel Baumbraun und Moosgrün, unzählige Armbänder an den Handgelenken, eine lange, kakifarbene Hose und einen grünen Schmetterling als Haarspange. Sie ist mir ein wenig unheimlich.

Die drei Jungs kennen sich offenbar schon lange. Sie sind vertraut miteinander, necken sich ständig, auf eine brüderlich-liebevolle Art. Mit den Mädels gehen sie respektvoll um, sprechen freundlich mit ihnen.

Sie heißen Vasi, Jürgen und Max.

Vasi kommt ursprünglich aus Griechenland, spricht aber kein Griechisch, dafür Deutsch mit Akzent. Er hat einen schwarzen Vollbart, sanfte Hundeaugen und einen leicht weiblichen, schwingenden Gang.

Jürgen und Max sehen sich ähnlich: beide glatzköpfig, groß und sportlich. Sie rasieren sich gegenseitig die Köpfe, wie zwei buddhistische Mönche, die kein Haar auf ihrem Haupt dulden. Sie sind die Anführer der Gruppe, wissen immer, was zu tun ist, und ziehen die anderen mit. Manchmal wirken sie wie besessen, ein wenig aggressiv. Aber sie haben eine freundliche Art. Sie sind übrigens Veganer. Das muss zwar nichts heißen, beruhigt mich aber irgendwie.

Wir reden den ganzen Vormittag, und meine Anspannung lässt nach. Sie sind offenherzig und haben keine Vorurteile. Max und Jürgen gehen zu den Nachbarzelten, um Bier und Zigaretten zu schnorren. Später werden sie sich revanchieren. So läuft das hier. Man nimmt und man gibt. Hier leben sie den wahren Sozialismus.

Obwohl der Konsum mittags schon weit fortgeschritten ist, macht keiner schlapp. Niemand ist betrunken, nur ausgelassen. Keiner macht Stress, alle feiern das Leben und genießen die Sonne.

Vasi zupft leise auf seiner Gitarre, Jenny summt mit. Ann liegt auf einer Isomatte und schaut in den Himmel. Ihr Buch liegt neben ihr. Meine Neugier wächst. Ich gehe langsam auf sie zu, als würde ich mich an ein scheues Reh heranpirschen. Ihre Augen huschen kurz zu mir, wachsam.

»Was liest du da?«

Ich setze mich vorsichtig zu ihr und spreche leise. Sie schaut zum Buch, dann zu mir, dann wieder zum Buch.

»Es ist von meinem Bruder. Er hat’s geschrieben … und mir geschenkt, bevor er weggegangen ist.«

»Darf ich’s mir anschauen?«

Sie zögert, dann reicht sie mir das Buch.

Es hat einen weißen Umschlag und wirkt abgegriffen. Kein Autorenname, nur der Titel: Das Weiße Buch. Wahrscheinlich hat ihr Bruder das Exemplar eigens für sie drucken lassen.

»Worum geht’s?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Schwer zu sagen. Ich glaub, man muss es selbst lesen. Es geht um das Leben. Um ein anderes Leben. Nicht das, was wir normalerweise sehen.«

»Jetzt bin ich aber neugierig. Darf ich’s mal lesen?«

Ich sehe kurz Abwehr in ihrem Gesicht. Dann entspannt sie sich und nickt.

Ich lasse sie in Ruhe, lege das Buch zurück und mache mich auf den Weg zu einem kleinen Spaziergang am Strand.

Die anderen bleiben. Sie wollen später ein Feuer machen.

16

Ich schlendere durch die Straßen, beobachte die Möwen bei ihren Versuchen, den Leuten das Essen aus der Hand zu klauen, kaufe mir ein Minzeis und schlecke es genüsslich, während ich die Promenade entlangspaziere, entkomme der Menschenlawine, ziehe die Schuhe aus und gehe barfuß durch den glühenden Sand. Mir ist so heiß, dass ich mein T-Shirt ausziehen muss und nun befreit die Wellen entlanglaufe.

Die Leute liegen verstreut in der Sonne, die Strandkörbe an den Dünen sind alle belegt, es wird gesonnt, gespielt, gelacht, geschlafen. Die Menschen lassen es sich gut gehen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was wohl gerade irgendwo in Afrika oder Antarktis oder Amerika passiert.

Denn dass in diesem Moment überall auf der Welt, in jedem noch so kleinen, unbedeutenden Dorf, etwas geschieht, der Mensch atmet, isst, denkt, auf dem Klo sitzt, Schmerzen leidet, seine letzten Atemzüge macht und stirbt, stirbt, stirbt … daran denkt hier vermutlich niemand.

Und doch, genau jetzt hat jemand seinen letzten bewussten Moment in seinem Körper durchlebt und wird gerade in eine andere Dimension katapultiert. Im besten Fall. Unzählige kämpfen mit Schmerzen, mit unaussprechlichen, unbeschreiblichen Körperzersägungsmechanismen und Zerfallserscheinungen, es brechen Knochen, es reißen Sehnen, irgendwo ist gerade das Rückenmark noch heil, und im nächsten Augenblick für immer durchtrennt, durch einen fatalen Sturz beim Herumalbern, durch einen Unfall nach einem kurzen Blick aufs Handy.

Irgendwo stolpert ein junges Herz im Schlaf und bleibt stehen, eine Spätfolge einer banalen Infektion. In einem Gefängnis hängt sich jemand auf, weil er die lebenslange Aussicht auf die vier hässlichen Wände nicht erträgt. Und eine Mutter weint irgendwo, der Vater trauert leise oder schreit seinen Verlust in die Welt, ein tierischer Schrei ist das. Und irgendwo macht ein kleiner Mensch seinen ersten Atemzug und schreit seine Angst hinaus, den Schock über das Atmenmüssen, die Kälte, die fremden Hände, ja auch über die Mutterbrust, die zwar Wärme spendet, aber die Schwerelosigkeit des Mutterleibs nicht ersetzen kann.

Der Mensch steckt voller Wut über das verlorene Paradies, er schlägt um sich und versucht herauszufinden, was er hier soll, warum er hier ist, warum all der Zwang und Kampf, warum die Strenge und der Hass, weshalb die unerbittliche Gewissheit des Todes, der lauert, so geschickt und leise, dass man ihn kaum wahrnimmt und vergisst, doch er ist da, dessen ist sich der Mensch bewusst. Meist verdrängt er die unangenehme Sache mit Geschäftigkeit und Zielen, mit seinen Talenten und dem Streben nach Glück, mit tierischem Genuss und zielloser Zerstreuung. Doch wenn mal Langeweile aufkommt, spürt er den kalten Atem, spürt er, wie unbedeutend er ist, wie verletzlich und arrogant-komisch in seinen kläglichen Versuchen, etwas Substanzielles seinem Dasein abzugewinnen, etwas, das signalisiert: Ich bin ich. Ich bin hier. Ich bin etwas von Bedeutung. Ich bin etwas Wahres und Einzigartiges.

Der Mensch macht Kunst, versucht sich auszudrücken, doch gibt es da etwas auszudrücken? Ist es nicht Schall und Rauch – Gedanken, die er nicht wählt, Gefühle, die ihn überkommen, Charakterzüge, die angeboren sind, Situationen, auf die er reagiert? Und das versucht er dann zu ordnen mit Farbe, Ton und Stift, oder er kotzt es aus, ungeordnet auf ein Medium seiner Wahl.

Und dann weiß er stolz: Das ist mein Werk. Das ist meiner Hände, meiner Fantasie, meines Talents und meiner Fähigkeit Produkt. Ich bin der einzigartige Erschaffer und Autor, es fehlt nur noch ein Titel und ein Autogramm, um es vollständig mein Eigen zu nennen.

Der Künstler und seine Kunst – ein Trugbild? Ist Kunst wirklich etwas Wertvolles? Oder ist sie Ausdruck eines unvollständigen Menschenwesens, ein Ersatz für das echte Leben, eine Äußerung der Angst vor dem wirklichen Leben?

Vielleicht muss sich der Mensch bewusst gegen das Kunstschaffen entscheiden und seinen Schaffensdrang in die Entwicklung seines Wesens leiten, in die volle Entfaltung seines menschlichen Seins, seines Potenzials als Mensch.

Diese Gedanken spuken in meinem Kopf, während ich den Strand entlangspaziere. Natürlich sind die Gedanken nicht ausformuliert, sie schweben einer Ausdünstung gleich in meinem Geist, ohne sich zu klaren Sätzen zu formen. Doch es sind diese Bilder, die sich für Augenblicke vor meinem inneren Auge manifestieren.

Die Gedanken sind schon etwas Unerklärliches. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu sehr auf sie zu achten, also vergesse ich schnell wieder, was mir da durch den Kopf huscht.

17

Ich betrachte lieber die Szenerie. Die Weite des Meeres will mich beeindrucken, doch in mir drin ist es still, keine Regung. Ich könnte jetzt meine Fantasie anwerfen und mir Abenteuerreisen vorstellen, wie ich von einem abfahrenden Schiff aus aufs Land blicke und mich verabschiede. Auf zu einer Reise in die unendliche See! Doch meine Fantasie springt nicht an. Und so betrachte ich das Wasser, wie es herumwirbelt, und den Horizont, wie er leer und bedeutungslos seine Linie zieht. Möwen kreisen, schaukeln auf den Wellen, picken nach Essbarem.

Ich bin nun weit weg von der Stadt. Der Strand ist menschenleer. Ich setze mich an der Abbruchkante der Düne in den Sand, strecke die Beine aus und atme tief durch.

Sie ist jetzt bestimmt bei ihrer Schwester und kümmert sich um das Kind. Ich stelle mir vor, wie sie herumalbert und dem Mädchen eine köstliche Unterhaltung bietet. Wie sie eine Katze imitiert oder ein Pferd. Wie sie da sitzt und mit dem Kind spricht, ohne Verniedlichung, ohne belehrend zu sein. Ich würde sie jetzt gern sehen. Wissen, wie sie wirklich ist.

Ich bleibe lange sitzen und beobachte die Sonne, wie sie langsam zum Horizont rollt. Zum Glück habe ich meine Sonnenbrille dabei. Meine Augen sind lichtempfindlich. Ein paar Spaziergänger laufen vorbei, ein paar Hunde schnüffeln im Sand. Die Luft riecht nach Wind und Salz.

Ich schließe die Augen, setze mich aufrecht hin. Ich vertraue meinem Bauchgefühl. Jetzt ist es Zeit, in die Stille abzutauchen. Ich werfe mich kopfüber hinein.

18

Ich spüre einen Druck im Kopf, keinen Schmerz, aber nah dran. Etwas Nagendes, Dumpfes, Ekliges. Das habe ich öfter. Jetzt, in der konzentrierten Stille, fällt es besonders auf. Die Aufmerksamkeit ist geschärft. Sie ertastet jeden noch so kleinen Impuls, jede Regung des Körpers, jede Unpässlichkeit. Ich lenke sie auf den Atem. Rauf … Halt … Runter.

Ich stelle mir vor, wie die Organe aussehen, so fleischlich wie möglich. In meiner Vorstellung fließt viel Blut. Doch ich glaube, in Wirklichkeit sind es klar abgegrenzte Gebilde: blutarmes Gewebe, durchzogen von unzähligen Äderchen. Wird wohl so sein. Bilder habe ich ja gesehen.

Ich stelle mir vor, wie mein Magen arbeitet, wie die Gedärme geknäuelt im Bauch liegen und der Essensbrei langsam zu Kot wird. Im Dickdarm verdickt er sich, staut sich, sammelt sich, liegt da, bereit zur Ausscheidung. Der Urin schwimmt in einem dehnbaren Beutel. Die Lymphe fließt zäh zu den Lymphknoten. Die Faszien verkleben, Eiter sammelt sich an unbemerkten Entzündungen.

Bei den Buddhisten gibt es eine Praxis: Sie betrachten verwesende Leichen, um sich der Vergänglichkeit des Körpers bewusst zu werden. Bei mir ist es ähnlich, nur dass ich mir die lebendigen Prozesse vorstelle. Dann spüre ich die Stofflichkeit des Körpers, das Maschinelle und zugleich Wunderliche daran. Ich darf mich nur nicht zu lange darin aufhalten. Sonst spüre ich plötzlich Symptome. Ich kann schon ein Hypochonder sein, wenn man mich lässt.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit weg vom Körper, hin zur Aufmerksamkeit selbst, in den Kopf hinein. Ich spüre meinen inneren Blick, der in den Raum hinter geschlossenen Lidern starrt. Hier und da huscht ein Gedanke vorbei. Sie steigen aus der Halswirbelsäule auf, erscheinen im Blickfeld, verpuffen wieder. Ich lasse ihnen keine Gelegenheit, sich zu verfestigen.

Draußen rauscht das Meer. Die Sonne brennt sich orange durch meine Lider. Ich bleibe in der Stille.

Der Atem ist präsent. Manchmal springt die Aufmerksamkeit auf die Atemwellen auf und geht mit. Dann lenke ich sie zur Stirn. Von innen heraus fokussiere ich mit aller Kraft den Bereich zwischen den Augenbrauen und werfe mein ganzes Wesen hinein. Oft gelingt es, und es geschieht ein plötzlicher Wechsel – hinein in das fokussierte Schauen. Dann bin ich ein Punkt in einer Kugel aus Dunkelheit und werde zunehmend zur allgegenwärtigen Wahrnehmung, die alles verschlingt. Die Zeit verliert ihre gewohnte Bedeutung und wird zu etwas Räumlichem. Vergangenheit und Zukunft werden eins mit der Gegenwart, die alles erfüllt.

So sitze ich da und starre in die Leere, verliere meinen Körper, verliere das Gefühl für den Körper, bin für Augenblicke reines Wahrnehmen – schwerelos, gedankenlos, frei.

Irgendwann springt die Aufmerksamkeit wieder hinaus. Ich höre das Meer. Die Sonne wird rot und küsst bald den Horizont. Ich muss zurück zu den anderen.

19

Als ich ankomme, sind nur Jenny und Ann da. Die Jungs sind unterwegs. Ein kleines Feuer brennt, die beiden schnippeln Gemüse. Es gibt Eintopf. Ich habe noch Mangos da, sie dürften jetzt reif sein. Wir sprechen kein Wort. Wir lächeln uns an und wollen nichts voneinander wissen. Ich fühle mich wohl in ihrer Gegenwart. Eine Welle der Akzeptanz fließt zu mir. Ich lege mich hin und entspanne mich.

Als das Essen fertig ist, kommen die Jungs zurück. Sie sind gut drauf und erzählen von den anderen Bewohnern der Wiese. Da ist zum Beispiel ein Opa, der kaum noch gehen kann, aber rebellisch ist wie ein Jungspund. Er trinkt Schnaps, raucht Kette und hat sein Zelt neben einer Gruppe Mädels aufgeschlagen, die ihn umsorgen. Sie bringen sein Pfand weg, holen Nachschub, kümmern sich um ihn. Er malt auf zerrissenen Kartons – immer in Rot, immerzu Kreise. Das steht für das ganze Leben, sagt er, und schließt den nächsten Kreis.

Die Jungs schlagen vor, dass wir morgen abreisen. Sie haben Dinge zu erledigen in der Stadt. Die Mädels sind einverstanden. Ich zögere. Einerseits könnte ich sie besuchen, andererseits beginne ich mich gerade mit der Atmosphäre hier anzufreunden. Und sie wird ohnehin beschäftigt sein.

Ich entscheide mich zu bleiben. Ich will mir allerdings ein Zimmer mieten. Zelten hat seinen Charme, doch der Wetterbericht kündigt Regen an.

Am nächsten Tag begleite ich sie zum Bahnhof. Wir verabschieden uns herzlich. Ich verspreche, sie bald zu besuchen. Sie fahren ab.

Ich bin wieder allein und steuere ein paar Ferienwohnungen an. Ich bekomme ein Zimmer für teures Geld. In der Hauptsaison ist kaum etwas zu kriegen. Das Zimmer ist klein, aber sauber. Doppelbett, Kochnische, Blick in den Hof. Das Meer ist nur hundert Meter entfernt.

20

In den nächsten Tagen lege ich mir ein Hobby zu. Ich laufe den Strand entlang, barfuß und meist ohne T-Shirt. Ich laufe ohne Ziel und Absicht, ein Strandläufer ohne Vergangenheit und Zukunft. Wenn mein Bauchgefühl zur Rast aufruft, höre ich hin und mache Halt, lege mich in den Sand oder spreche mit Menschen, die ihren Aufgaben nachgehen: mit dem Rettungsschwimmer, der auf seinem Stand sitzt und die Badezone überblickt, mit dem Cafébesitzer, der die Stühle auf der Terrasse zurechtrückt, mit dem Müllsammler, der stoisch seine Runden dreht.

Ich bin ein Strandläufer, ein Lebenskünstler und Alltagsphilosoph, ein Lebemann und Asket. Die Leute interessieren sich für mich – und vergessen mich im nächsten Augenblick wieder. Man darf sich nicht zu wichtig nehmen.

Die Sonne heizt unerbittlich. Ich benutze keine Sonnencreme – aus Prinzip nicht. Ich bin ein Verfechter der Naturheilkunde, der Rohkost und der natürlichen Lebensweise. Und wenn man natürlich lebt, dann gewöhnt sich die Haut an die Sonne, wird braun, gesund und widerstandsfähig.

Dass Theorie und Praxis oft auseinandergehen, merke ich, als am Nachmittag meine Schultern und mein Nacken zu schmerzen beginnen. Als ich mich auf einer Toilette im Spiegel anschaue, überzeugt mich die Röte der Haut doch, in einen Laden zu gehen und die teure Creme zu kaufen. Ich schmiere mich großzügig ein und suche regelmäßig schattige Plätzchen auf. Mein Körper ist noch nicht bereit für das Sonnenleben.

Das Wetter an der Nordsee ist launisch. In einem Augenblick ist blauer Himmel und Sonnenschein, im nächsten bläst ein scharfer Wind, treibt Wolken heran, und es regnet schnell und heftig. Dann zieht der Regen ab, und es ist wieder schönstes Sommerwetter. Man müsste eine Jacke dabeihaben hier, doch ich bin stoisch und lasse die nasse Kleidung einfach am Körper trocknen, während ich meine Runde am Strand drehe.

An manchen Tagen schaffe ich vierzig Kilometer. Der anfängliche Muskelkater in den Beinen verwandelt sich bald in eine angenehme Schwere.

Ich faste und trinke literweise Wasser, das ich mir aus den Wasserhähnen der öffentlichen Toiletten in eine Flasche fülle. Wenn mich der Fußmarsch zu sehr anstrengt und eine Schwächeattacke über mich rollt, strecke ich mich im Sand aus, schließe die Augen und vergesse mich für ein paar Stunden. Meist fühle ich mich danach leicht, erholt – und gehe weiter.

Manchmal jogge ich los, weil ich mich danach fühle. Ich laufe ein paar Kilometer, langsam wie ein Faultier, doch stetig und ohne Pause. Dann nehme ich ein kurzes Bad im Meer und gehe weiter. Eine schöne Routine, die mich müde macht und mich nicht groß denken lässt.

21

Jeden Morgen stehe ich um halb sieben auf, ohne Wecker. Ich dusche, nehme meinen Rucksack und verlasse das Zimmer bis zum Abend.

Ich gehe runter ins Café, hole mir einen Espresso oder einen heißen Kakao, setze mich ans Meer und freue mich auf den Tag. Die Heißgetränke geben dem Tag Struktur, es gibt dann etwas, worauf ich mich freuen kann. Mehrmals täglich steuere ich ein Café oder eine Bäckerei an und hole Nachschub. Die netten Kleinigkeiten des Alltags.

Es sind schon ein paar Tage vergangen, seitdem sie weg ist. Ich überlege, sie anzurufen. Mein Handy habe ich nicht dabei, also gehe ich in ein Hotel und frage, ob ich telefonieren darf.

Ihre Nummer kenne ich auswendig. Es klingelt lange, bevor sie rangeht.

»Ah, du bist das! Ich freu mich so, dass du anrufst! Hier ist die Hölle los, sag ich dir. Die Kleine will nicht auf mich hören, ich bin verzweifelt! Und meine Schwester ist ständig unterwegs. Ich weiß gar nicht, wo sie sich die ganze Zeit herumtreibt. Einen Job hat sie immer noch nicht, trotz der vielen Bewerbungen.«

So aufgeregt kenne ich sie nicht. Ich komme kaum zu Wort.

»Willst du, dass ich komme?«, frage ich, nachdem sie mir in allen Details geschildert hat, was die Kleine alles anstellt, nur um nicht schlafen zu müssen.

»Oh ja, bitte!« 

Sie klingt erfreut, und das macht mich froh. 

»Komm am Wochenende. Dann hab ich endlich Zeit. Wir machen was Schönes.«

Wir verabreden uns für Samstag im Zentrum.

Ich lege erleichtert auf. Sie hat mich nicht ganz vergessen, denke ich – und lächle der Dame an der Rezeption zu.

22

Es sind noch ein paar Tage, bis ich fahren muss. Ich nutze sie für meine Strandläufe.

Ich beschließe, aus der Ferienwohnung auszuziehen und die verbleibende Zeit komplett draußen zu verbringen – unter freiem Himmel, am Strand. Wahrscheinlich ist es nicht erlaubt, aber ich will das Abenteuer auskosten.

In der Stadt sind noch Überreste der Punkgesellschaft unterwegs, die meisten aber sind abgefahren. Sie hatten eine Menge Spaß – und nichts erreicht. Zumindest ist der Zeltplatz aufgeräumt, sie haben alles ordentlich hinterlassen. Neben dem Müllcontainer liegen bemalte Pappschilder mit roten Kreisen drauf. Ein Symbol des Widerstands.

Ich trinke einen Espresso in einem Stehladen. Dann laufe ich los. Es ist angenehm mild. Die Sonne versteckt sich hinter dunklen Wolken. Es kann jeden Moment regnen, aber das macht mir nichts aus. Ich laufe einfach weiter – ohne Gedanken, ohne auf das Wetter zu achten.

Ich beobachte die Leute. Touristen bauen Sandburgen, Kinder schreien wie Möwen. In den Wellen sehe ich einen Delfin, nicht weit vom Ufer. Er scheint mir zu folgen, und ich folge ihm. Er taucht auf, sieht zu mir – zumindest bilde ich mir das ein –, taucht unter, verschwindet für Minuten und erscheint Hunderte Meter weiter. Sprachlos schaue ich ihm zu, wie er mühelos durchs Wasser gleitet.

Einmal sehe ich auch eine Kegelrobbe, wie sie schwarz und neugierig aus dem Wasser steigt und den Strand im Blick behält. Für einen Moment könnte man sie für einen Menschen in schwarzer Badekappe halten. Die Schnurrhaare, der durchdringende Blick, der glatte, glänzende Körper, wenn sie wieder abtaucht – ich fühle mich wohl in ihrer Gegenwart. Das Leben scheint leicht zu sein. Ich freue mich wie ein Kind.

Ich bleibe stehen und lasse sie nicht aus den Augen. Am liebsten würde ich ihr zurufen, pfeifen – doch ich lasse es. Am Ende verscheuche ich sie noch. Irgendwann laufe ich weiter, staunend über die Wunder der Natur.

Nach mehreren Stunden bin ich müde. Heute ist der Sand spröde. Die Sonne hat ihn ausgetrocknet und weich wie Mehl gemacht. Es fällt mir schwer, darauf zu laufen. Ich bleibe immer wieder stecken und muss Kraft aufwenden, um die Füße zu befreien.

An manchen Tagen ist der Strand dagegen fest wie Asphalt. Die Flut und die anschließende Ebbe pressen ihn flach, härten ihn aus, machen ihn zur Straße für Strandläufer wie mich. Dann macht das Gehen richtig Spaß. Mühelos läuft man dahin, die Beine machen feste, weite Schritte. Man kommt doppelt und dreifach so weit wie auf weichem Sand, mit dem ich jetzt kämpfen muss.

Doch ich gebe nicht auf. Ich murre nur ein bisschen vor mich hin und ärgere mich über meine Ungeduld, über die Gedanken, die kommen. Ich will gar nicht mehr unzufrieden sein. Vielleicht ist es mein Charakter, der das Negative betont. Es gibt Phasen, in denen die Welt hart und ungerecht erscheint. In solchen Momenten mag ich mich nicht besonders.

Doch auch das geht vorüber. Meine Stimmung hellt sich auf. Es ist ein Auf und Ab. Vielleicht zieht es mich deshalb immer wieder in die Stille, in die gewählte Langeweile, in die stumpfe Einsiedelei.

23

Ich will dem menschlichen Hang zum Pessimismus trotzen, indem ich mich von meinem Ich befreie. Ob das möglich ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es eine Illusion, die sich die Menschen schaffen, um mit dem Leben klarzukommen. So wie Gott, Ehre, Stolz, Besitz. Man erzählt sich Geschichten über sich selbst und die Welt, bis man nicht mehr anders kann, als an sie zu glauben. Schließlich will man überleben. Mehr noch: man will gut leben, glücklich sein und produktiv.

Glück – das ist die ultimative Währung unserer Zeit. Vielleicht auch schon immer in der Menschheitsgeschichte, nur jeweils anders ausgedrückt. Heute ist man glücklich, wenn man eine liebe Person als Alleinbesitz beanspruchen kann, die einen im Gegenzug »mein Ein und Alles« nennen kann. Man hat ein sicheres Auskommen, nette Kollegen und fährt in den Urlaub. Man gönnt sich leckeres Essen, sieht zu, dass man Klamotten mit Markenlabel kauft, schaut die angesagten Serien und geht am Wochenende wandern – an den hübschen See, den man bequem mit dem eigenen Auto erreicht. Wie tausend andere glückliche Menschen.

Man hat ausgesorgt und macht sich immerzu Sorgen: um große Dinge, um kleine Dinge, um Politik, um den Fleck auf dem Hemd, um die lauten Nachbarskinder, um die verpassten Chancen, um die Konservierung glücklich verlebter Augenblicke.

Man knipst unzählige Fotos und lächelt gezwungen – man will ja etwas zum Teilen haben in den sozialen Netzwerken. Manche betreiben es als Hobby, manche als Zwangsmaßnahme, manche verdienen sich ihr Geld damit. Alles ist geplant, und spontan ist man zu ausgewählten Zeiten, mit den richtigen Leuten, an bestimmten Orten. Ich bin einer davon.

Doch ich will mich häuten und habe beschlossen, dranzubleiben. Immer weiter zu laufen, immer weiter dazusitzen, ohne Beschäftigung – und vor Langeweile sterben. Das sage ich nur so, denn eigentlich finde ich die Langeweile ziemlich angenehm – wenn ich denn Aussicht auf ihr Ende habe. Die Langeweile fühlt sich für mich mit der Zeit spannend an.

Die Umkehrung aller Werte: Ich bin kein Übermensch, doch ich finde alles sympathisch, was aus der Reihe tanzt – ob Menschen oder Situationen.

Und so übe ich mich mehr denn je im authentischen Anderssein – nicht anders im Vergleich zu den anderen, sondern anders im Vergleich zu mir selbst: wie ich vor zehn Jahren war, vor einer Woche oder gestern.

Ich spüre die veränderlichen Aspekte meines Wesens auf und weiß dann, dass diese Dinge nicht mein wahres Selbst sind. Sie verändern sich, haben keinen dauerhaften Bestand, also können sie nicht mein Ich sein.

Ich schäle diese Schichten wie eine Zwiebel. Es tut manchmal weh. Tränen fließen in Form von Unzufriedenheit und Ungeduld. Aber am Ende tut es gut, befreiter und leichter dazustehen. Ich habe das Gefühl, dass ich dann wenigstens ein Stück näher am Ziel bin – eine Null zu werden.

Ich meine das überhaupt nicht negativ oder pathetisch. Ich will eine komplette, runde Null werden – mich allen Schichten entledigen, die mir anerzogen, angeängstigt, eingeträumt und angedacht wurden. Nicht von einem Gott natürlich und nicht aus Bosheit von den Menschen, sondern als eine Art unausweichliche Fügung – als Schicksal, wenn man so will, als determinierte Angelegenheit.

Man geht seinen Weg, entscheidet jederzeit, ob es nach links oder nach rechts oder geradeaus gehen soll. Doch der Weg und die Entscheidung stehen schon fest. Ist es so?

Indische Weisheiten erzählen etwas von Karma. Doch es soll auch Moksha geben – so liest man es in den alten Büchern –, die Befreiung aus dem Festgelegten, dem Unausweichlichen. Ein Paradox. Und ich bin gerade im Spannungsfeld der Widersprüche drin.

Mich spricht der radikale Skeptizismus an. Im Moment finde ich die Vorstellung, dass jedes Argument ein Gegenargument hat, ziemlich überzeugend. Ich halte mich daran – habe mich eigentlich schon mein ganzes Leben daran gehalten, eher unbewusst. Nicht zu urteilen, eine andere, gegenseitige Sicht auf die Dinge zu suchen, und meine Mitmenschen damit zu provozieren – so uneindeutig, vage und überhaupt nicht entschlossen zu sein.

Vielleicht kann ich nicht anders. Vielleicht bilde ich mir etwas ein. Doch ich bleibe erstmal dabei. Es scheint zumindest der gangbare Weg zu sein, um sich zu schälen.

24

Was ist das Drama unserer Zeit? Dass alles Fake News und unsicher ist.

Doch ist es vielleicht ein Segen? Ist es unsere Chance, uns kennenzulernen, uns von Ballast, von überkommenen Ansichten, Meinungen und Spielereien zu befreien?

Geldverdienen, weil das wirtschaftliche System es verlangt – ist das unser Zweck, unsere Berufung? Es gibt keine Berufung, kein Ziel, werden viele sagen, und damit wahrscheinlich recht haben. Doch lebe mal ohne Zweck! Lebe mal, ohne sich das Leben zu erklären, ohne auf sein Bauchgefühl zu hören, ohne zu sagen: Das war jetzt ein glücklicher Wink des Schicksals.

Es ist verdammt schwer, ohne ein Motiv seinen Alltag zu bestreiten. Denn so ein Alltag kann ganz schön vernichtend sein – mehr noch als jeder Schicksalsschlag. Ich behaupte gar, es sind mehr Menschen innerlich kaputt gegangen vom Alltag als von besonderen Leidensprozessen. Der Alltag ist wie stetes Wasser, das den Stein aushöhlt – langsam, aber gewiss und stetig. Und wenn man sich kein Ziel sucht, ob groß oder klein, fällt es einem gar nicht leicht, weiterzumachen.

Schon der Gedanke an die Zubereitung des Abendessens ist ein Motiv. Er lässt einen hoffen und freuen. In einem winzig kurzen Moment, in dem der Gedanke daran aufsteigt, füllt sich das Bewusstsein mit Sinn. In diesem Moment ist das der Lebenssinn schlechthin, füllt für eine Millisekunde das ganze Wesen aus und lässt das Herz weiterschlagen.

Zu weit gegriffen? Schau doch selbst. Und ich werde für mich nochmal genau drauf achten.

25

Die unsicheren Zeiten lassen viele nach einfachen Lösungen suchen. Sie greifen auf dogmatische Glaubenssätze zurück, und diese sind so vielfältig wie ein Chamäleon. Von frommem Gottesglauben und Nächstenliebe bis zu Nationalismus und den außergewöhnlichsten Mythen – es spielt keine Rolle, an welche Geschichte man sich zu glauben zwingt. Die Eindeutigkeit der Geschichte ist ausschlaggebend. Je schärfer formuliert, desto besser. Die Menschen sind zufrieden mit solchen schnellen Lösungen und greifen zu.

Andere hingegen lassen sich Zeit, graben tiefer, geben sich nicht zufrieden mit einfachen Stories und Plots. Sie fühlen, dass eine Geschichte, die vorgibt, als einzige wahr und richtig zu sein, eine Fabel ist – der man zwar glauben kann, wenn es einem gefällt, die aber der Unterhaltung dient, der Ablenkung, dem Zeitvertreib. Und so gehen sie weiter und suchen nach etwas, das mehr ist als eine Geschichte. Ob es so etwas gibt? Das muss wohl jeder für sich herausfinden.

Ich tue das jedenfalls. Ich schmeiße bewusst und vorsätzlich alles Gewisse über Bord, minimiere mich maximal, zweifle alles an, bin unnormal und zugleich völlig gewöhnlich, ein Mensch unter Millionen. Doch das Komische ist: Ich betrachte alles aus dieser einen bestimmten Perspektive – aus meiner, so will ich meinen, einzigartigen Perspektive dieses Körpers. Die Fenster meines Bewusstseins sind offen, und alles fließt in den Raum, den ich »Ich« nenne. Auch bloß eine Geschichte? Das gilt es zu überprüfen.

Es gibt spirituelle Richtungen wie Advaita Vedanta. Da besteht der Zweck der Übung darin, sich bei jedem im Geist aufkommenden Gedanken zu fragen: Wem kommt dieser Gedanke? Wer registriert ihn? Man beobachtet. Man reagiert nicht. Man horcht.

Und die einzige Antwort, die es gibt: Ich bin es. Ich bin derjenige, dem dieser Gedanke kommt.

Dann stellt sich die letzte Frage: Wer bin ich?

Das Entscheidende ist: Man soll diese Frage nicht beantworten. Man soll nicht grübeln und nicht nach einer Antwort suchen. Es ist eine Frage ohne Antwort – eine stille Einladung.

Kommt der nächste Gedanke, wiederholt sich das Spiel: Wem kommt dieser Gedanke? … Mir. Wer bin ich? … Und wieder bleibt man still. Und so immer weiter. Man achtet auf jeden aufsteigenden Gedanken und betreibt Selbsterforschung.

Ich übe mich noch darin. Diese Übung regelmäßig zu machen, dranzubleiben – das ist wohl die größte Herausforderung.

Ob es etwas bringt? Wenn man sich davon etwas erhofft, bringt es nichts, würden die Weisen sagen. Die Suche versperrt den Weg. Man soll sich auch von der Suche lösen.

Ein Gedanke, der hängen bleibt. Vielleicht versteht man jetzt besser, warum ich zu einer Null werden will.

26

Es ist kurz nach Mittag, als ich Lust auf Kaffee bekomme. Ich verlasse den Strand und gehe in den kleinen Ort in der Inselmitte. Dort kenne ich eine Rösterei, in der es immer nach frisch gemahlenem Kaffee riecht.

Ich bestelle einen schwarzen Kaffee und setze mich draußen in einen Strandkorb. Die stehen hier nicht nur zu Hunderten am Strand, sondern auch vor den vielen Cafés. Ich mache es mir unter dem blau-weiß gestreiften Schirm bequem.

Plötzlich kommt Wind auf, dunkle Gewitterwolken ziehen heran, und keine fünf Minuten später regnet es in Strömen. Als es in den Korb hineinregnet, flüchte ich nach drinnen. Eine halbe Stunde später ist der Spuk vorbei, und ich mache mich wieder auf den Weg.

Neben dem Café liegt ein Dorfteich mit zwei kleinen Inseln, auf denen zahlreiche Wildvögel brüten. Ich bleibe stehen, beobachte das Treiben. Dann fällt mein Blick auf die Kirche am Ufer, ein kleines Gebäude mit einem schönen Turm aus rotem Backstein. Ich war schon öfter dort und habe die schlichte Einrichtung bewundert: Nordseemotive, Schiffe auf hoher See, weiße Kacheln, schlichtes Holz. Einfach, aber geschmackvoll.

Ich bekomme wieder Lust, die Kirche zu besuchen, und folge dem Schotterweg, der um den Teich führt. Ein paar Enten versperren den Weg, flüchten aber hastig ins Wasser, als ich näher komme.

Die Kirche empfängt mich mit kühler, trockener Luft. Es scheint niemand da zu sein. Ich gehe zum Kerzenständer, werfe ein paar Münzen in die Sammelbox und entzünde eine Kerze. Ich denke an meine Strandläufe, an die Stadt und an mein Vorhaben, so oft wie möglich in der Stille zu sitzen. Möge es mir gelingen.

Die roten Kerzen werfen sanftes Licht an die alten Wände. Der Kerzenständer hat die Form eines Schiffes. Daneben liegt ein Gästebuch aufgeschlagen. Ich schreibe ein kurzes Gedicht hinein, das ich vor Jahren geschrieben habe.

Als ich mich zum Gehen wende, fällt mein Blick auf die Bankreihen. Ganz hinten sitzt jemand. Ein alter Mann, mit halb geschlossenen Augen, reglos, konzentriert. Er schaut nichts Bestimmtes an – und sieht doch alles.

»Eine schöne Kirche«, sagt er plötzlich. Seine Stimme klingt erstaunlich jung.

»Ja, wirklich schön«, antworte ich und zögere. Soll ich gehen oder bleiben? Etwas lässt mich bleiben, und ich setze mich.

Wir schauen beide zum schlichten Altar, über dem ein Schiff auf stürmischer See abgebildet ist.

»Sie sind nicht von hier«, sagt er.

»Nein, nur ein paar Tage zu Besuch.«

»Aber kein typischer Tourist.«

Er sieht mich zum ersten Mal direkt an.

»Ich habe zumindest nicht viel Gepäck dabei«, lächle ich.

Der Mann ist klein und trägt eine Strickmütze. Sein Gesicht ist schmal, braungebräunt, von Falten durchzogen. Die Augen leuchten blau.

»Und Sie kommen von hier?«

»Ich bin vor zwanzig Jahren auf die Insel gezogen. Davor habe ich in der Großstadt gelebt, aber irgendwann war das nichts mehr für mich.«

»Fühlen Sie sich wohl hier?«

»Ich musste mich dran gewöhnen.« Er blickt auf seine Hände. »Eigentlich ist der Ort gar nicht so wichtig, wie man meint.«

Dann erzählt er von seinem Leben. Er hat jung geheiratet, hatte mit Anfang zwanzig schon zwei Kinder, musste hart arbeiten, um der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Er war bei der Post, hat jahrelang Briefe ausgetragen, später im Büro gearbeitet. Der Rücken hat es irgendwann nicht mehr mitgemacht. Und dann hat er das Malen für sich entdeckt.

»Früher dachte ich, ich müsste nur an einem perfekten Ort leben, um vollkommen glücklich zu sein. Irgendwo im Warmen, am Meer. Wir haben sogar mal ein paar Monate in Italien gelebt, in einem Dorf im Süden. Aber ich habe schnell gemerkt: Die Probleme verschwinden nicht, wenn man den Ort wechselt. Man nimmt sich selbst immer mit. Und dann habe ich angefangen zu malen. Erst Landschaften, später wurde es immer abstrakter.«

Er rückt näher, setzt sich zu mir. Jetzt sehe ich ihn deutlich. Er ist alt, doch seine Augen strahlen.

»Meine Frau ist dann gestorben. Die Kinder wurden erwachsen und sind in alle Himmelsrichtungen gezogen. Ich bin auf die Insel gekommen, habe hier die letzten Jahre noch in der Poststelle gearbeitet. Und in jeder freien Minute gemalt.«

27

Eduard, so heißt der Mann, lädt mich zu sich ein. Er möchte mir sein Atelier zeigen.

»Es ist gleich um die Ecke. Wenn Sie Zeit und Lust haben, kommen Sie doch mit auf einen Tee.«

Ich bin sofort einverstanden. Draußen haben sich die Wolken verzogen, die Sonne scheint, es riecht nach Salz und Dünengras.

In einer Seitenstraße steht sein kleines Häuschen mit einem Wintergarten, der ihm als Atelier dient. Das Haus ist blau gestrichen, an der Pforte hängt ein Schild: Blaues Haus. Ein Künstlerparadies mit wild zugewachsenem Garten, charmant und authentisch.

Im Atelier ist alles von Licht durchflutet. Der Wintergarten ist vollständig verglast. Auf dem Boden stapeln sich Bücher, eine braune Ledercouch steht da, ringsum liegen Malutensilien, Leinwände, Farben. Am Ende des Raums steht eine Staffelei mit einem Hocker davor.

Das Bild auf der Staffelei hat Eduard gerade erst begonnen. Nur ein paar dunkelgrüne Striche auf weißem Grund. Was es wird, weiß er selbst noch nicht. Aber es soll »was Atmendes« werden.

Auf einem Tisch neben der Couch stehen ein Wasserkocher, eine Glaskanne, eine Teedose und ein Porzellanfilter. Eduard macht uns Tee und zündet sich eine Zigarre an. Eigentlich vertrage ich keinen Rauch. Doch diese Zigarre riecht angenehm, fast verlockend. Ich wollte schon immer mal eine probieren. Vielleicht mach ich es irgendwann – zum Geburtstag oder so.

Eduard zeigt mir ein paar seiner Werke. Es sind spannende Bilder – meist abstrakte Porträts halbnackter Menschen. Nicht immer am Strand, aber vom Meer inspiriert. Die Körper sind rund oder kantig. Sie entsprechen keinem Schönheitsideal, sind Kunstfiguren, Hirngespinste. Doch Augen und Münder sind echt. Wie du und ich sehen sie vor sich hin – verträumt, enttäuscht, schmerzerfüllt, glücklich. Die meisten zeigen keine Emotion. Sie sind Ideale des Künstlers. Eduard hat sie erschaffen und sie gehören ganz ihm.

Eine Ausstellung hat er nie gemacht, doch seine Bilder verkaufen sich gut. Die Cafés, Kneipen und Galerien auf der Insel bieten Künstlern wie ihm eine Plattform. Sie bewerben ihre Werke, weil sie vom besonderen Flair der Künstlerkolonie profitieren. Und es gibt viele gut betuchte Besucher, die bereit sind, für Kunst und Atmosphäre zu zahlen. So kann Eduard von seiner Arbeit leben.

Im Winter jedoch zieht er sich zurück. Er malt, trinkt, raucht und geht täglich ans Meer, um sich durchpusten zu lassen. Dann kann er wieder atmen, träumen, malen.

Und obwohl er schon alt ist und seine Stunde näher rückt, spürt er sein Herz kraftvoll schlagen. Er will weitermalen, bis zum Schluss. Bis nichts mehr geht, bis er seine letzte Zigarre geraucht hat und hier, auf dieser Couch, für immer einschläft. Hoffentlich friedlich und ohne Schmerz.

All das erzählt er mir ganz offen. Ich weiß nicht, warum er mir so sehr vertraut. Ich frage ihn.

»Weil Sie ein Freigeist sind«, sagt er. »Sie haben mir erzählt, dass Sie alles hinter sich lassen und jeden Tag freier werden wollen. In der Kunst geht es auch darum, frei zu werden. Den ganzen Ballast auf die Leinwand zu werfen. Die Ideen, den Druck, den Schaffensdrang, der einen nicht in Ruhe lässt. Wie ein lästiger Gedanke oder das Jucken nach einem Mückenstich. Diesem Drang Erleichterung zu verschaffen, darum geht es.

Etwas schaffen zu wollen – das ist ein Fluch, kein Segen. Auch wenn es anders aussieht. Eigentlich will man nur frei sein, unbeschwert, angekommen, leer. Das Leben genießen, ohne die Kunst als Ersatz zu brauchen. Aber wir Künstler sind unterentwickelt. Wir sind ständig auf dem Weg, Suchende, Getriebene. Ich beneide den Mönch, der sich selbst aufgibt. Und den Selbstlosen, der sich nicht so ernst nimmt.«

»Hat die Malerei Sie nicht ein Stück weit freier gemacht?«

»Oh doch. Das Malen hat mich damals aus meiner plumpen Existenz gerissen, hat mir den Alltag erleichtert. Denn sehen Sie: Obwohl der Prozess des Malens sehr repetitiv ist, die Technik die immer gleichen Bewegungen fordert, ist jedes Bild einzigartig, ist jeder Pinselstrich einmalig, ist jede Idee ein Unikum. Und ich bin selbst immer wieder überrascht, was am Ende herauskommt. Ich trete zurück und betrachte das Bild staunend wie zum ersten Mal – obwohl ich es doch war, der tage- und wochenlang daran gearbeitet hat.

Die Kunst macht frei, aber sie ist gleichzeitig ein Kerker. Man ist gefangen durch sein beschränktes Talent und Können, durch seinen Stil und sein Umfeld. Völlig frei ist man nie. Auch das Kunstwerk selbst hält einen gefangen – in der Malerei noch mehr als in jeder anderen Kunst. Ein Schriftsteller zum Beispiel hat Wörter, die er aufschreibt, die er beliebig oft und auf beliebig vielen Medien unterbringen kann. Es ist nichts Dingliches in seiner Kunst, nichts zum Anfassen – reine Idee und Ausdruck.

Bei einem Maler ist es komplizierter. Jedes seiner Bilder ist einzigartig und einmalig. Das Bild selbst, in seiner Materialität und Dinglichkeit – die Sache kann man anfassen, heben, tragen, aufhängen, fallen lassen, zertreten, verbrennen. Es ist keine reine Idee mehr, die da lebt. Sobald der Künstler das Bild fertig gemalt hat, ist es raus, wohnt nicht mehr in ihm, ist gewissermaßen etwas Fremdes – eine Ausgeburt mit einem Eigenleben. Der Künstler hat Muttergefühle für das Kunstwerk, doch das Bild ist ein undankbarer Emporkömmling, der jede Beziehung verleugnet und scheut. Das Kind hat sich abgenabelt, und der Künstler muss es loslassen. Doch meist kann er das nicht.

Und weil es das Bild so nur einmal gibt, trauert er ihm sein ganzes Leben nach – sei es, weil es verkauft wurde und nun in einem fremden Haus hängt, sei es aber auch, weil es an seiner eigenen Wand oder im Lager ruht, versteckt zwischen anderen Bildern. Das Bild bleibt ihm für immer entrissen. Er kann kein zweites identisches malen – und er will es auch nicht.

Ich finde die Buddhisten in diesem Sinne recht klug. Sie machen eine regelmäßige spirituelle Übung daraus: Sie machen ein aufwendiges Mandala aus Sand – ein riesiges Gebilde aus zahlreichen Farben, geometrisch perfekt. Sie arbeiten tagelang an diesem Kunstwerk, stecken viel Geduld und Kraft in die Erschaffung dieses farbenfrohen Sandbildes, das so viel Ruhe und Geheimnis ausstrahlt.

Und wenn das Mandala dann fertig ist – zerstören sie es. In einem feierlichen Ritual streichen sie es mit einem Pinsel feinsäuberlich zusammen, sammeln den Sand in ein Gefäß und schütten ihn später über einen Fluss aus oder überlassen ihn dem Wind. Die Essenz, die Botschaft dieser Praktik: Egal wie schön, wie aufwendig geschaffen, wie bewundernswert etwas ist – nichts im Leben ist von wirklicher Dauer. Wir müssen uns von allem trennen, schlussendlich auch von unserem Körper und unserem Leben hier.

Vielleicht ist das der Schlüssel zur inneren Befreiung. Ich habe mir auch schon oft vorgenommen, eines meiner Bilder einfach zu zerstören. Doch bisher konnte ich mich noch nicht dazu durchringen.«

28

Eduard macht neuen Tee und zündet sich eine neue Zigarre an. Ich denke über das Gesagte nach und finde die buddhistische Praxis mit dem Mandala ziemlich beeindruckend. Ich erinnere mich, schon mal davon gehört zu haben.

Und mir fällt auf, dass ich wohl mein Leben gerade wie eines dieser Mandalas gestalte – und bereits die ersten Pinselstriche der Zerstörung gemacht habe. Im nächsten Augenblick überfällt mich plötzlich Angst. Ein Gedanke steigt auf, eine böse Ahnung, ein Zweifel, der sich in meinen Kopf bohrt: Was ist, wenn mein Mandala noch gar nicht fertig war, noch nicht komplett?

Was ist, wenn ich angefangen habe, mein Leben zu zerstören, mich zu entleeren und zu einer Null zu werden, noch bevor ich es vollständig kreiert habe? Habe ich mein Potenzial voll entfaltet? Habe ich alles gegeben, um mein Leben in voller Pracht und völliger Blüte restlos und vollständig erstrahlen zu lassen – wie ein Mandala? Oder war es nur zur Hälfte, oder gar zu einem noch kleineren Teil erschaffen? War es vielleicht schief und unpräzise, fehlte die Strahlkraft der Farben? War nicht genug Leidenschaft und Geduld hineingesteckt worden?

Dieser Gedanke lässt mich nicht los, während ich Eduard dabei zuschaue, wie er vor der Leinwand sitzt und Strich um Strich an seinem Bild malt, ohne mich zu beachten. Ich verabschiede mich bald und gehe gedankenverloren zum Strand.

Ich schaue aufs Meer hinaus, das ruhig und gleichmäßig dahinrauscht, setze mich in den Sand, schließe die Augen und vertiefe mich in die sorgenvolle Stille. Sie pulsiert und bebt wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Mein Herz schlägt schnell und immer schneller. Eine Schwere legt sich auf meine Brust, ich zittere. Und dann ist sie da: Panik.

Mir wird kalt, ich schwitze, meine Hände zittern, mein ganzer Körper zittert. Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, mein Magen zieht sich zusammen, meine Gedärme spielen verrückt. Mir ist übel, und ich muss dringend aufs Klo. Ich laufe los, erreiche im Nu die nächste öffentliche Toilette und erleichtere mich. Es geht mir etwas besser, doch die Angst bleibt. Der Körper ist in Alarmbereitschaft, der Kopf brummt, der Mund ist trocken, ich habe keinen Appetit – und einen Zwangsgedanken im Hirn:

Ich werde sterben. Mein Herz packt es nicht, es bleibt stehen, sicherlich – und ich werde hier allein am Strand krepieren. Der Sand wird mich begraben, die Flut über mich schwappen, die Fische meinen Körper abnagen. Und nichts bleibt, allein die Angst als letzte Erinnerung an das Leben, als letztes Lebenszeichen.

In diesem Moment will ich, dass es aufhört, dass die Angst loslässt. Doch die nächste Welle der Panik steigt in mir auf und überrollt mich mit Schaudern, mit hässlicher Gänsehaut, mit dem kalten Atem der Verzweiflung. Ich habe Angst, dass die Angst für immer bleibt, dass ich nie mehr normal sein werde, dass sich künftig alles um die Angst drehen wird.

Ich probiere die Atemtechnik, von der ich mal irgendwo gelesen habe. Sie soll bei Panikattacken helfen und den Körper runterbringen: langsam einatmen, Atem anhalten, noch langsamer ausatmen. Ich bin wieder am Strand, lege mich hin, stelle mich tot, atme weiter. Und die unerträgliche Körperspannung lässt nach gefühlter Ewigkeit etwas nach.

Ich hatte schon früher Angstzustände und deshalb weiß ich, dass es ein paar Tage dauern wird, bis ich wieder zu mir komme, bis der Griff nachlässt und ich wieder im wahrsten Sinne des Wortes aufatmen kann.

Ich döse ein und schrecke mehrmals aus dem Halbschlaf auf – wie von einer Kugel oder einem Schlag getroffen, als ob mir jemand Elektroschocks gibt. Ich reiße die Augen auf, fühle das hämmernde Herz, strecke mich wieder hin und versuche, mich selbst zu beruhigen.

Es geht bald vorbei, sage ich mir immer wieder. Es ist nur eine Fehlreaktion des Körpers. Es geht vorbei. Es bleibt nicht für immer so. Das funktioniert nur bedingt. Ich beschließe, mich in Bewegung zu setzen. Vielleicht wird es mich ablenken.

Es ist bereits spät abends, die Sonne ist im Sinkflug. Sie verschwindet hinter rotem Dunst am Horizont, doch es bleibt noch lange hell – bis elf Uhr bestimmt. Und so habe ich noch Zeit, mich nach einem Schlafplatz umzusehen.

Ich denke an Eduard und seine Gartenlaube und stelle mir vor, wie ich auf der braunen Ledercouch liege, frei von Sorgen und Ängsten, einen Tee auf dem Tisch – und friedlich einschlafe.

Die Panik lässt nach, als ich eine Düne hochklettere und in einer Einbuchtung, die von allen Seiten durch hohes Gras geschützt ist, mich hinlege und einen tiefen, seufzenden Atemzug mache.

Die Sterne werden sichtbar, es wird dunkel und kühl. Ich habe meinen kleinen Rucksack dabei, packe eine dünne Reisedecke aus und schlüpfe darunter. Den Rucksack lege ich mir unter den Kopf. Ich höre den Wellen zu, versuche, alle Gedanken zu ignorieren, indem ich all meine Aufmerksamkeit auf das Meeresrauschen konzentriere.

Ich starre gleichzeitig einen Stern an, den ich mir zufällig unter Tausenden ausgesucht habe – und gleite endlich in einen unruhigen, aber befreienden Schlaf. Ich vergesse mich. Und das ist schon die halbe Miete.

Ich schlafe bis zum nächsten Morgen fast durch. Ich wache nur einmal auf, als mich im Traum jemand verfolgt und mir etwas Hässliches antun will. Doch die Panikattacke hat mich so erschöpft, dass ich bald darauf wieder einschlafe.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, sind die Möwenschreie und der blaue Himmel, den ich erblicke. Komischerweise fühle ich mich erleichtert. Die Angst ist weg. Ich kann mich sogar strecken und empfinde dabei tierischen Genuss.

Die Angst war schneller weg, als ich befürchtet habe. Doch der Eindruck bleibt. Das Mandala muss ergründet werden.

29

Nachdem ich mich im Meer erfrischt habe, gehe ich ins nächste Café und schlürfe einen Milchkaffee. Ich setze mich im zweiten Stock direkt vor die Fensterfront und beobachte die Surfer, die gegen die Wellen ankämpfen. Der gestrige Angstausbruch kommt mir jetzt wie ein Traum vor, doch eine Restanspannung bleibt, und so lässt mich der Gedanke daran nicht los. Ob sie auch solche Angstzustände kennt? Ich nehme mir vor, sie das zu fragen bei unserem baldigen Wiedersehen.

Das Café ist leer, nur ein paar Frühaufsteher sitzen einzeln an den Tischen, lesen Zeitung, schauen ins Handy, sehen aufs Meer hinaus. Wie kommen sie wohl mit ihrem Leben aus? Sie haben bestimmt Ängste, Sorgen, Kummer und unerfüllte Wünsche. Doch hier sitzen wir, sehen aufs Meer, trinken Kaffee, haben es angenehm warm. Wir vergessen viel zu oft, dass es uns materiell eigentlich sehr gut geht. Doch die Seele schmerzt still vor sich hin, und da niemand reinschauen kann in so einen Menschen, ist es nicht so einfach zu erkennen, ob jemand leidet. Wir sehen auch zu selten hin.

Nach dem Kaffee beschließe ich, zu Eduard zu gehen. Obwohl es noch sehr früh am Morgen ist, sagt mir mein Gefühl, dass er schon wach ist. Und tatsächlich, als ich an der Pforte zum Blauen Haus stehe, ist Eduard schon fleißig. Er macht Morgengymnastik im Garten. Er bewegt sich langsam und graziös, macht wohl Tai-Chi, und als er mich irgendwann bemerkt, macht er keine Anstalten aufzuhören. Er winkt mich mit einer langsamen, fließenden Handbewegung herein. Ich setze mich auf eine Bank und beobachte. Ihn scheint es nicht zu stören.

»Ist es Tai-Chi?«, frage ich, als sich unsere Blicke treffen.

»Keine Ahnung, ich mache das intuitiv. Es macht mir Spaß, und die Gelenke bleiben geschmeidig.«

Dann fängt er plötzlich an, auf der Stelle zu hüpfen, macht Kniebeugen, legt sich auf den Boden und macht Liegestütze. Ich bin beeindruckt. Er macht noch weitere Sätze, kommt dann schwer atmend zu mir.

»Jeden Morgen mache ich das. Seit Jahren. Hält mich fit.«

»Nicht schlecht«, teile ich meine Bewunderung und überlege, wie alt er wohl ist. Über siebzig müsste er schon sein.

»Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich schon wieder vorbeikomme.«

»Hier gehen die Leute ein und aus. Das Blaue Haus kennt hier jeder. Ich bin also an Gäste gewöhnt – auch unangemeldete«, lacht er mir zu und dehnt sich dabei. »Ich freue mich wirklich, dass Sie da sind. Kommen Sie, ich mache uns einen Tee.«

Erleichtert über Eduards Gastfreundschaft folge ich ihm ins Atelier. Sein Bild von gestern hat Fortschritte gemacht. Zu dem Dunkelgrün gesellte sich Blau und Orange. Ich meine, ein Gesicht erkennen zu können. Eduard bereitet uns Tee zu und erkundigt sich nach meinem Befinden.

»Ich habe gemerkt, dass die Geschichte mit dem Mandala Sie sehr bewegt hat gestern. Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?«

Ich erzähle ihm von meinem Zustand und meiner Sorge, ob ich mich vorzeitig zurückziehe in meine selbstgewählte Einsiedelei. Eduard sagt lange nichts. Wir schlürfen an unserem Tee, ich betrachte seine Bilder. Gespannt warte ich auf eine Antwort. Ich spüre, dass er nicht überlegt und stattdessen darauf wartet, dass ihm intuitiv etwas einfällt.

»Machen Sie es doch wie ein Künstler. Das Leben ist Ihre Leinwand. Sie sind der Erschaffer. Sie malen das Motiv, und irgendetwas gefällt Ihnen nicht. Sie übermalen es, leeren es sozusagen, machen Pause, machen was anderes, kehren irgendwann zum Bild zurück, setzen den Pinsel von Neuem an – und da gelingt das Vorhaben plötzlich. Das Bild im Inneren hat sich auf der Leinwand manifestiert.

Aktuell ist Ihnen nach Rückzug und Ausradieren zumute – und das ist in Ordnung so. Vielleicht kommt wieder der Moment, wo es Sie nach Fülle und Farbe verlangt, und dann folgen Sie diesem Gefühl. Das Leben sorgt für alles, wenn wir unser Ich zurücknehmen und unserem Bauchgefühl folgen. Wagen Sie es, mehr auf Ihren Bauch zu hören. Meiner Erfahrung nach macht man damit wenig falsch.«

Ich überlege, ob ich gerade intuitiv lebe. Ich stelle fest, dass ich mir selbst viele Regeln auferlegt habe, viele Rituale. Ich reglementiere meine Ernährung, meinen Besitz, und ja – auch meine Gefühle und Gedanken. Ich versuche, sie zu minimieren. Ich male mein Mandala schwarz-weiß, sehr abstrakt und geometrisch. Entspricht es noch dem spontanen, dem freien Leben?

Andererseits bin ich hier, habe auf mein Herz gehört und bin mit ihr und den anderen hergefahren, obwohl ich sie wenig kenne. Ich spüre, dass sie mir guttut, dass sie Farbe ins Muster reinbringt, dass die geraden Linien Kurven und Schleifen kriegen.

»Ich glaube, ich bin gerade am Anfang der Phase, wo ich mehr Farbe reinbringen möchte in mein Leben. Und das hat mit einer bestimmten Person zu tun – mit einem Mädchen, das ich vor Kurzem kennengelernt habe.«

»Es ist meistens ein Mädchen«, lacht Eduard. »Nicht nur in den Romanen ist es meist ein Mädchen, sondern auch im echten Leben kommt Bewegung rein, wenn ein Mädchen die Bühne betritt. Es wirbelt vieles durcheinander, macht vieles leichter, einiges schwieriger, das meiste schöner und bedeutungsvoller.«

Eduard schaut bei diesen Worten nachdenklich zum Fenster. Er scheint sich an Vergangenes zu erinnern, das in seiner Erinnerung wieder auflebt.

»Aber ist es nicht eine Illusion, gegen die ich mit meinem Rückzug aus dem Leben kämpfen wollte? Ich will doch selbstgenügsam sein, frei und unabhängig. Von keinem Menschen will ich abhängen, ihm was schulden, auf etwas hoffen, etwas erwarten. Und kein anderer Mensch soll etwas von mir erwarten, soll nicht seine Wünsche und Lebensentwürfe auf mich projizieren. Darum ziehe ich mich ja in die Stille zurück – um auf nichts und niemanden reagieren zu müssen, um von Angst und Wunsch frei zu sein … da ist eine Frau doch geradezu hinderlich!«

Ich gestikuliere mit den Händen, um meiner Idee Ausdruck zu verleihen, doch Eduard bleibt unbeeindruckt. Er weiß auch so, wovon ich rede. Er steht auf und beginnt langsam hin und her zu gehen, von der Couch zu dem Bild an der Staffelei, wieder zurück. Er nimmt einen winzigen Schluck Tee, stellt die Tasse auf dem Tisch ab und schreitet erneut zur Leinwand, bleibt stehen, sieht auf seine Arbeit, legt den Kopf zur Seite, bleibt unbewegt, dreht sich wieder um und geht seinen nächsten Schluck Tee holen.

»Sie fürchten sich vor wahrer Nähe«, sagt er nüchtern, fast analytisch feststellend. Er steht mit dem Rücken zu mir, sein Bild im Fokus. Dann macht er einen Schritt zur Staffelei, schnappt sich den Pinsel und macht ein paar Striche. Dabei ist der Pinsel sauber, es ist keine Farbe drauf. Eduard macht Trockenübungen. Vielleicht ist ihm gerade eine Idee gekommen, und er will sie in seiner Fantasie ausprobieren, ob es wirkt. Wahrscheinlich sieht er die neuen Striche genau vor sich.

Er scheint nicht überzeugt zu sein, schnell legt er den Pinsel wieder weg, dreht sich wieder zu mir und schreitet nachdenklich zurück. Er setzt sich auf die Couch, gießt sich neuen Tee ein und schaut mich eindringlich an.

»Es ist so wie mit einem Bild, an dem ich arbeite. Ich kann so tun, als ob ich male, ich kann den Pinsel in die Hand nehmen, ihn ansetzen und Bewegungen machen, kann mir sogar vorstellen, was dabei entsteht, und auch einem anderen kann ich ziemlich plastisch vor Augen führen, was dieser Strich mit der und der Farbe an der und der Stelle bewirkt, und was die Kombination der Striche ergibt …

Doch es entsteht dabei nichts Reales auf der Leinwand. Bis ich die Farbe mische, den Pinsel darin tauche und die Farbe anbringe, ist alles eine Wunschvorstellung – vielleicht die beste, die es gibt, aber eben nur eine Vorstellung. Das Bild lebt nur in der Fantasie, ist noch nicht in dieser Welt angekommen, ist nicht geboren, kann nicht ohne Worte und Erklärung existieren. Und was nicht ohne Worte existieren kann, ist nicht real.

Durch Worte kann keine unmittelbare Erfahrung entstehen – nur ohne Worte, ohne Erklärung, ohne Absicht ist wahre Erfahrung möglich.«

Eduard sieht mich an und versucht zu erspähen, ob ich verstehe, was er mir sagen will.

»Was ich damit meine ist: Man kann unzählige Male planen und in seiner Vorstellung ausmalen. Aber irgendwann muss man den Pinsel in Farbe tauchen, ihn auf die Leinwand drücken und den Strich ziehen. Man muss sich festlegen – und das macht Angst. Man denkt, man hat nur die eine Chance, um den richtigen Strich zu machen …

Aber wer führt in diesem Moment den Pinsel? Bin das ich? Oder ist in diesem Moment vielleicht schon alles entschieden? Ich gebe die Kontrolle ab, verlasse mich auf meine Intuition und mein Können, verlasse mich auf meine Hand und meine Finger – und darauf, dass sie den Pinsel mit genau dem richtigen Druck und genau richtigem Winkel halten, dass sie im richtigen Moment den Pinsel wieder anheben.

Irgendwann gibt man die Hoffnung und Ängste auf, vergisst sich – und lässt los. Jeder Pinselstrich an sich ist ein Gebet und ein Glaubensbekenntnis. Denn jedes Mal gibt man seinen Willen auf und bittet, dass etwas Gutes herauskommt. Vielleicht ist das das Wesen der Kunst, der Liebe, des Lebens: Man gibt sich in einem Moment auf und hofft – nein, ist man gewiss –, dass etwas Gutes und Wahres herauskommt.

Und dann wiederholt man es. Unzählige Male. Man ist selbst jedes Mal gespannt, was daraus entsteht. Es ist man selbst – und doch nicht –, der handelt. Und vielleicht treibt genau das uns an: diese ungewisse Gewissheit, die uns malen, schreiben, lieben und leben lässt.«

»Aber bevor man loslässt und seine Hand den Pinselstrich machen lässt, muss man sich festlegen, wie Sie sagen … Ich glaube, ich habe mich festgelegt. Ich will die vollständige Befreiung erreichen. Ich will herausfinden, wer ich wirklich bin.«

»Genau. Sie haben sich festgelegt. Jetzt lassen Sie die Kontrolle los. Sie haben Ihren Weg gewählt. Nun gilt es, sich selbst zu vergessen – und zu schauen, was passiert.«

Eduard tigert wieder zum Bild und macht weitere Striche. Ich beobachte den Pinsel ganz genau. Ich höre auch jede Berührung auf der Leinwand. Eduard bleibt jetzt lange bei dem Bild, vertieft sich in die Arbeit, lässt den Tee kalt werden. Ich bedanke mich, verabschiede mich und lasse Eduard allein. Er winkt mir geistesabwesend zu.

Ich verlasse das Blaue Haus. Morgen reise ich ab.

Ich verbringe noch eine Nacht am Strand. All das, was Eduard gesagt hatte, lasse ich mir durch den Kopf gehen. Ich entscheide mich für nichts. Ich weiß, dass es nichts bringt. Ich lasse seine Worte in mich hinein, lasse sie wirken, versuche, nicht zu reagieren. Ich höre dem Meer zu und sehe zu den Sternen hinauf. Ich schlafe erstaunlich schnell ein.

30

Am nächsten Morgen nehme ich den ersten Zug. Ich lasse mich auf meinen Platz und in einen fiebrigen Schlaf fallen. Mich fröstelt es, entweder ist die Klimaanlage zu kalt eingestellt oder ich habe mich erkältet.

Am Bahnhof angekommen, schleppe ich mich zur Tram und lasse mich nach Hause bringen. Zu Hause ziehe ich mich aus, werfe mich auf den Futon und bin sofort weg.

Als ich wieder aufwache, ist es dunkel draußen, es muss schon mitten in der Nacht sein. Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen, mir die Zähne zu putzen und ein Glas Wasser zu leeren. Dann will ich wieder einschlafen. Doch es klappt nicht. Mein Kopf ist schwer, mein Rücken tut weh. Ich wälze mich hin und her, richte mich schließlich auf und bleibe in der Dunkelheit sitzen. Ich höre Sirenen, Marderschreie. Dann wieder Stille.

Ich fühle mich kaputt und bin hellwach. Ich ziehe die Decke hoch bis zu den Schultern, sammle mich und suche die Stille in mir. Ich tauche ab.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein Mandala, das sich im Uhrzeigersinn dreht. Es ist sehr komplex aufgebaut und besteht aus unzähligen Farben und Formen. In dessen Mitte glaube ich mal Eduards Gesicht auftauchen zu sehen, mal ihres. Dann sehe ich ein fremdes Auge mich anstarren, es ist schwarz, durchdringend, irgendwie leer. Der Blick hypnotisiert mich. Ich vergesse mich und sehe direkt in die unendliche Dunkelheit der Pupille.

In diesem Moment wird das Auge größer und immer größer. Es wird zu einer Kuppel, einem Ballon, einer Kammer, die mich umschließt. Ich bin jetzt mitten im Auge, das kein Auge mehr ist. Es ist zu einem Nichts geworden, das mich umgibt.

Ich spüre, wie sich meine Aufmerksamkeit, mein Ich-Gefühl ausdehnt und mit diesem Nichts zusammenfließt und vereinigt. Ich spüre die Zeit, aber nicht als eine Linie mit vorher, jetzt, dann, sondern als einen Raum, der ausschließlich das Jetzt ist. Ich bin die grenzenlose Wahrnehmung im Jetzt – so fühlt es sich an.

Das Ganze dauert wahrscheinlich nur ein paar Minuten, doch als ich die Augen aufmache und wieder meinen Körper spüre, scheinen Stunden vergangen zu sein. Ich fühle mich entspannter, lege mich hin und schlafe endlich ein.

31

Als ich am Morgen aufwache, fühle ich mich leicht. Es ist Samstag, heute werde ich sie wiedersehen. Ich springe unter die Dusche, mache mich fertig und frühstücke Äpfel. Danach schmeiße ich den Staubsauger an, gehe einmal die Wohnung durch – nicht um sie sauber zu machen, sondern um die Zeit totzuschlagen.

Dann verlasse ich die Wohnung und gehe zu Fuß ins Stadtzentrum. Ich brauche vierzig Minuten dafür. Es ist gefährlich bewölkt, doch zum Glück fällt kein Regen. Zum Schluss beeile ich mich richtig, ich will nicht zu spät kommen. 

Als ich auf dem Platz ankomme, ist sie schon da. Ich sehe sie von weit weg. Sie steht unter einem Plakat, das eine Theatervorstellung bewirbt. Darauf sind ein Elefant und ein Elch abgebildet, die sich gegenüberstehen. Zwischen den beiden sind Menschenspuren im Schnee zu sehen. Das Theaterstück heißt Das sibirische Kind. Vielleicht sollte ich mit ihr hingehen, geht es mir durch den Kopf, doch dann vergesse ich schon wieder den Gedanken. Wir stehen uns gegenüber und schauen uns an. Wir lächeln.

Wir gehen in ein Café und reden durcheinander. Sie sieht bezaubernd aus, und auch müde. Das Kind hat ihr alles abverlangt.

»Ich konnte teilweise mehrere Nächte hintereinander nicht schlafen. Sie hat die ganze Zeit geschrien. Und weißt du, wo meine Schwester war? Sie hat einen Mann kennengelernt! Okay, zu Bewerbungsgesprächen ging sie auch, aber sie ist verliebt über beide Ohren und lässt mich mit dem Kind allein. Das schaffst du schon, Schwesterlein, sagt sie zu mir. Und ich bin total überfordert.«

Sie lehnt sich zurück und spielt mit dem Kaffeeschaum.

»Zum Glück hat sie jetzt einen Babysitter organisiert und ich bin raus aus der Nummer. Ich find die Kleine ja ganz süß, aber die Tage haben erstmal gereicht. Und wie war’s bei dir auf der Insel? Jenny hat mir erzählt, ihr habt euch alle ganz gut verstanden.«

»Oh ja, sie sind fantastisch«, berichte ich ehrlich. »Jeder ist auf seine Weise lustig und hat eine besondere Persönlichkeit. Ann zum Beispiel ist sehr mysteriös, die Jungs wissen immer, was zu unternehmen ist, und Jenny ist eine Herzensgute, da kann man nichts sagen. Ich mag sie alle.«

»Sehr gut! Dann können wir ja zu ihnen gehen. Aber nicht heute. Heute bleiben wir zusammen.«

Sie lächelt mich süß an und nimmt meine Hand.

Ich erzähle ihr von meinen Strandspaziergängen, von Eduard und die Geschichte mit dem Mandala. Dabei betrachte ich ihre Augen, das Spiel ihrer Mundwinkel. Die Haare hat sie sich noch kürzer rasiert, jetzt sind es nur ein paar Millimeter. Das steht ihr ungemein.

Da sitzen wir, zwei kurzrasierte Kinder des Lichts, zwei Krieger im Kampf um das süße Leben. Ich suche nach Tieferem, sie sucht nach nichts, erzählt sie. Sie will einfach nur Spaß haben, denn man lebt ja nur einmal, worauf ich entgegne, dass wir das nicht mit Sicherheit wissen können. Sie nickt, ist einverstanden, das sage man eben so, aber ich wisse ja, was damit gemeint ist.

»Angst, das ist es, was die Leute am meisten antreibt«, philosophiere ich. »Ich habe auch oft mit der Angst zu kämpfen, mit plötzlichen Wellen der Angst, die mich überrollen, meist unangekündigt, doch immer hart und mit vollem Karacho.«

Sie nickt. Sie scheint es zu kennen. Ich spüre, dass sie vieles mitgemacht hat. Und das bestätigt sie. Sie erzählt mir von ihrer Kindheit. Sie hatte ihren Vater an den Alkohol verloren, als sie zwölf war. Davor hat er ihre Mutter immer wieder zusammengeschlagen. Ihr hat er kein Haar gekrümmt, aber um ihre Liebe gebettelt. Zum Äußersten kam es nicht, aber ihre Seele hat Kratzer und Beulen davongetragen.

»Ich will mich nicht binden. Auch an dich nicht. Ich liebe es zu lieben. Aber ich bin keine, die sich festlegt«, erklärt sie mir und streichelt weiter meine Hand. Ganz zärtlich ist sie, und ihre Ehrlichkeit haut mich um.

»Du bist sozusagen polyamor?«

»Ja, so kann man es sagen. Ich lebe jetzt zum Beispiel in einer WG. Wir schlafen alle gemeinsam in einem Bett. Wer kuscheln will, der kuschelt. Wenn wir miteinander schlafen wollen, dann machen wir das, alles mit gegenseitigem Respekt und Einverständnis. Wir hören einander sehr gut zu und spüren, wenn einem irgendwas nicht passt. Wir leben ein Leben ohne viele Regeln. Wir teilen unsere Kleidung untereinander, jeder kann sich nehmen, was er will. Wir kochen gemeinsam, wir lieben uns. Ich mag zum Beispiel ein Mädchen, Lisa. Sie ist vollkommen harmlos, kann aber ziemlich aufbrausend und gefährlich wie eine Katze sein, die ihre Krallen ausfährt. Ich mag sie sehr. Wir spielen jedes Wochenende Mensch ärgere Dich nicht und sie ärgert sich immer. Wir gehen oft raus, gehen in die Clubs, tanzen, feiern das Leben. Am nächsten Morgen stehen wir mit den ersten Strahlen auf oder gehen gar nicht erst ins Bett, trinken starken schwarzen Kaffee und gehen dann in den Park Tischtennis spielen. Sie hat lange im Verein gespielt. Ich bin dagegen Amateurin. Doch das ist unser Ritual und ich werde immer besser.«

Sie wird immer spannender. Ich fühle mich wie in einem Film. Natürlich bin ich überrascht von ihren Offenbarungen, doch ich lasse in dem Moment los, wo ich innerlich angespannt werde. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ich sie in dem Waschsalon getroffen habe. Sie lässt mich im Nichturteilen üben, denn dass ich gegen meinen Willen noch urteile, stelle ich immer wieder fest, und das ärgert mich.

32

Wir gehen spazieren, durchqueren fast die ganze Stadt, von Ost nach West, dann südwärts zum Schlosspark, drehen eine Runde und kommen bei mir an. Wir essen Erdbeeren, die wir an einem Stand gekauft haben, reden über das Theaterstück, das ich auf dem Plakat gesehen habe, und beschließen, dass wir nicht hingehen wollen, weil wir uns die Handlung selbst ausdenken wollen.

»Ich spiele manchmal auch Theater, aber nur für mich, vor dem Spiegel im Bad, oder ganz selten für meine Alten.«

Sie sagt für ihre Alten, weil sie als Altenpflegerin arbeitet. Ich kenne mich in der Altenpflege gar nicht aus und bitte sie, mir von ihrer Arbeit zu erzählen.

»Du kommst einfach mal mit, dann siehst du es selbst.«

Sie fragt, ob ich mich oft langweile. Ich sage nein. Sie küsst mich und fragt, warum nicht. Ich streichle ihren Bauch und sage, weil ich Langeweile nicht so schlimm finde.

»Sie hilft mir, zu mir selbst zu finden.«

Ich erzähle ihr von meinem Mandalatraum. Sie lacht und möchte Eduard kennenlernen.

»Der ist ganz toll, ein wahrer Künstler, zumindest stelle ich mir so einen wahren Künstler vor, offenherzig, etwas komisch, hat viel erlebt, macht, was er will. Sein Blaues Haus, ja, so heißt es wirklich, ist eine Oase an Kreativität, sein Atelier zumindest, im Haus selbst war ich ja nicht. Soll ich ihn anrufen? Er hat mir seine Telefonnummer gegeben.«

»Oh ja, los, rufen wir ihn an!«

»Aber ich bin per Sie mit ihm. Er ist ja über siebzig, zumindest denke ich das.«

Ich krame den Zettel hervor und tippe die Nummer. Es klingelt lange, dann nimmt er ab.

»Im Blauen Haus.«

»Hallo!«, ruft sie ins Handy, noch bevor ich etwas sagen kann. »Wir haben einen gemeinsamen Freund, den Mandala-Typ, der dir den Tee weggesoffen hat!«

Sie prustet los und lacht wie ein Kind, das einen Telefonstreich macht und sich nicht halten kann vor Lachen.

»Ah, ja, natürlich. Hallo, schön, dich kennenzulernen. Ich bin Eduard.«

Sie kriegt sich wieder ein, stellt sich vor und fragt ohne Umschweife, ob wir beide ihn nächstes Mal besuchen könnten.

»Mein bescheidenes Häuschen steht euch immer offen.«

Ich kann hören, wie er grinst.

Sie verspricht ihm bald zu kommen und legt auf. Ich habe kein Wort sagen können. Ich sehe sie mit offenem Mund an. Ich bin etwas schockiert, das muss ich zugeben. Sie aber ignoriert mich einfach, läuft in die Küche und setzt Wasser auf.

»Jetzt gibt es Kaffee! Du hast doch welchen da?«, fragt sie, als ob nichts wäre.

»Instantkaffee.«

»Super, ich finde den schon.«

Und weg ist sie.

Fünf Minuten später balanciert sie zwei dampfende Tassen auf einem Schneidebrett durch das Zimmer.

»Zucker hast du wohl nicht. Dann trinke ich ihn so. Aber besorge dir welchen, sonst komm ich nie mehr wieder zu dir!«, sagt sie theatralisch und gibt mir einen Kuss.

Ihre Stimmung hat sich völlig gewandelt seit heute Morgen. Die ganze Aufpasserei auf ihre Nichte hat sie anscheinend echt mitgenommen, doch jetzt wirkt sie gelöst, entspannt, befreit.

»Ich muss morgen arbeiten.«

»Du musst am Sonntag arbeiten?«

»Ja, meine Alten müssen auch sonntags getätschelt, gefüttert, gewaschen, geliebt werden.«

»Du bist einzigartig.«

»Gewöhn dich nicht zu sehr an mich. Ich bin ein Freigeist.«

Sagt es und verschwindet im Bad. Sie duscht ausgiebig, ich höre sie herumträllern. Als sie zurückkommt, riecht sie nach Blumen und hat rote Backen.

»So, jetzt muss ich aber schlafen. Muss morgen früh raus.«

Sie gähnt, kuschelt sich an mich heran und schläft im Nu ein. Ich habe von Leuten gehört, die keine Probleme beim Einschlafen haben sollen, doch dass ich das Phänomen einmal selbst miterleben darf, habe ich nicht erwartet. Doch hier ist sie, schläft wie ein Baby und tritt im Schlaf. Einzigartig, denke ich mir, und schlafe bald ebenfalls ein, eingehüllt in ihre Wärme.

33

Am nächsten Morgen klingelt ihr Wecker, es ist sechs Uhr. Ich werde kurz wach, als sie sich aus dem Bett pellt, schlafe aber sofort wieder ein und höre nicht, wie sie die Wohnung verlässt. Ich bin immer noch geschafft von der Reise und dem Gefühlschaos.

Sie ist mein Energiespender, sie hilft mir bei der Bewältigung meiner Ängste, das weiß ich sicher, die ersten Eindrücke davon habe ich ja schon spüren können. Ich weiß gar nicht, wann wir uns wiedersehen, wir haben nichts verabredet. Ich muss mich wohl an ihre Ungebundenheit gewöhnen.

Ich stehe auf und mache Morgengymnastik. Ich imitiere Eduards Bewegungen, mache Liegestütze, versuche sogar einen Spagat. Dann sitze ich da, außer Atem, zufrieden, und überlege, was ich mit dem Rest des Tages anstellen soll. Ich will die anderen besuchen, also mache ich mich fertig und spaziere in Ruhe zum Bahnhof.

Sie sind nicht da. Dann fällt mir ein, dass einige von ihnen wohl arbeiten müssen. Ich weiß gar nicht, welche Jobs sie haben, das muss ich sie beim nächsten Mal fragen. Ich setze mich auf den Rasen und beobachte. Den Springbrunnen haben sie jetzt angemacht, das Wasser sprudelt in einem hohen Bogen hoch. Mir bleibt nichts anderes übrig, als hier zu sitzen, Sonne im Gesicht, und mich in Geduld zu üben. Ich hoffe, sie kommen bald, denn es ist schon später Nachmittag.

Ich beobachte die Menschen. Die meisten haben Spaß, Studenten flitzen durch die Gegend und belagern die Rasenfläche, ältere Menschen sitzen auf den Bänken und plaudern, die Stadt ist erfüllt mit der typischen Geräuschkulisse, Stimmengewirr, Autorauschen, Vogelgezwitscher.

Nur an der U-Bahn-Station, ich muss mich anstrengen, um ihn zu sehen, sitzt ganz klein zusammengekauert ein armer Mensch, einen Becher vor sich, allein, mit traurigem Blick, zerschlissenen Klamotten. Etwas später steht er auf und verschwindet in der U-Bahn.

Er fällt mir wieder ins Auge, als er mit einem Becher Kaffee zwischen den Menschengruppen an der Wiese vorbeigeht, einen freien Platz suchend. Er bleibt ein paar Meter vor mir stehen, blickt sich um, setzt sich hin. Den Kaffee stellt er vor sich, er hat einen Rucksack dabei, trägt eine viel zu warme Jacke und eine Mütze. Er ist jung, so um die dreißig. Sein Blick ist abwesend, verträumt, wie in Trance.

Vielleicht ist er betrunken, vielleicht hat er Drogen genommen oder aber er ist nüchtern und klar und sieht nur aus wie berauscht. Er lächelt vor sich hin, schaut dabei nichts und niemanden Bestimmten an. Er schlürft ab und zu an seinem Kaffee und lächelt weiter, grundlos, entrückt.

In diesem Moment tut er mir leid, und gleichzeitig beneide ich ihn. Er scheint glücklich zu sein, ohne Angst, frei. Ich verspüre einen Impuls, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen. Soll ich ihm Geld geben? Ist er vielleicht aggressiv? Er sieht zumindest ganz friedlich aus. Doch man weiß ja nie.

Und ich bemerke, wie ich urteile, und ich tue mir in diesem Moment selber leid. Warum kann ich die Gedanken des Urteils, der Angst, der Übervorsicht nicht sein lassen? Warum kann ich nicht offenen Herzens zu den Menschen gehen, mit ihnen reden, sie kennenlernen mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten? Ich habe Angst davor.

Das steckt tief in mir drin, kommt aus Vergangenem, aus der Kindheit vielleicht. Diese unsichtbare Mauer zu anderen Menschen spüre ich schon mein Leben lang. Manchmal kämpfe ich dagegen an, doch meistens lasse ich es und bleibe in meiner Komfortzone.

Ich weiß nicht, ob diese Abgrenzung aus dem Bauch oder vom Kopf her kommt. Ich habe mich dadurch bestimmt vor vielen Problemen bewahrt, doch auch vieles verpasst, viele Erlebnisse, interessante Begegnungen. Vielleicht würde ich mehr über mich und das Leben gelernt haben, wenn ich offener und kommunikativer wäre. Kann ich das noch ändern? Soll ich das ändern?

In diese Gedanken bin ich versunken, während ich den Mann mit dem Kaffee beobachte.

34

Dann erscheint Ann. Sie erkennt mich nicht sofort, ich muss ihr winken. Sie kneift die Augen zusammen, als würde sie schlecht sehen, erkennt mich schließlich und kommt rüber. Sie wirkt überrascht, mich zu sehen, aber ich glaube, sie freut sich.

Wir plaudern über dies und das. Irgendwann frage ich sie, wo sie arbeitet.

»Bei der Feuerwehr, in der Zentrale. Ich nehme die ganzen Anrufe entgegen und schicke die Rettungswagen los.«

»Hörst du da viele schlimme Geschichten?«

»Hab mich schon dran gewöhnt. Die schlimmsten sind aber immer noch die Selbstmorde bei Kindern und Jugendlichen. Viele kennt man schon, sie versuchen es nicht zum ersten Mal. Und es werden immer mehr. Ich weiß auch nicht, woran das liegt, aber in Großbritannien zum Beispiel sagen sie, dass es mit Social Media und mit festgefahrenen Rollenbildern und Mustern zusammenhängt. Sei ein Mann, hab einen muskulösen Körper, lass deine Gefühle nicht nach draußen. So was eben. Und Mobbing, dauerndes Mobbing.«

Wir schweigen. Sie schaut mich eindringlich an. Dann kramt sie in ihrer Tasche und holt ein Buch heraus. Ich erkenne es sofort. Es ist das Buch ihres Bruders. Sie streckt es mir hin. Sprachlos nehme ich es entgegen.

»Pass drauf auf, ich hab nur dieses eine Exemplar.«

Mir hat es die Sprache verschlagen, ich kann nur ein Danke von mir geben. Dass Ann mir das Buch anvertraut, überrascht mich sehr.

Dann kommt Jenny. Sie begrüßt mich mit einer herzlichen Umarmung und setzt sich dazu.

»Ich war heute am See, bin hingeradelt in der Früh. Es war wunderbar, das Wasser ist so warm! Aber sehr voll war’s.«

Sie raucht und macht sich ein Bier auf, das sie mitgebracht hat.

»Wie war’s noch auf der Insel? Wann bist du zurückgekommen?«

Ich erzähle ihr von meinen Spaziergängen und den Nächten am Strand, verschweige aber Eduard, ich weiß auch nicht warum. Wahrscheinlich ist das viel zu persönlich, das kann ich nicht jedem erzählen.

Jenny ist heiter, Ann ist irgendwie angespannt, dauernd blickt sie sich umher, schlingt die Arme um sich, als ob sie fröstelt, wippt hin und her mit dem Körper.

»Alles in Ordnung, Ann?«

Sie schaut mich unsicher an. Ich sehe Angst in ihren Augen.

»Ich glaube, er verfolgt mich wieder«, flüstert sie, blickt sich um, kaut am Finger, stößt die Hand in den Boden, als ob sie sich irgendwo abstützen möchte.

»Wer verfolgt dich?«, fährt Jenny hoch. »Hast du einen Stalker, oder was?«

»Nein. Ich weiß nicht. Das geht jetzt seit ein paar Tagen so.«

Sie drückt die Augen ganz fest zu und überlegt, erinnert sich, hat Bilder vor sich.

»Wir haben uns in der Bibliothek kennengelernt. Nicht mal richtig kennengelernt. Er setzte sich auf den Platz neben mir, ich blätterte gerade in einem Buch. Ich habe gemerkt, wie er mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Irgendwann lehnte er sich zu mir und fragte, ob ich auch studiere. Ich sagte nein, er sagte schade, fragte, was ich so mache, was für ein Buch ich lese und so fort. Er war nett, aber irgendwie aufdringlich. Ich ging dann bald darauf. Er fragte noch nach meinem Namen und wann ich das nächste Mal komme. Ich hab ihm meinen Namen gesagt, und dass ich nicht weiß, wann ich wieder komme. Ich hab mich noch einmal umgedreht beim Weggehen, und er starrte mich so an …«

»Das ist ja schaurig!«, ruft Jenny. »Warum hast du ihm deinen Namen verraten! Wenn du gemerkt hast, dass der Typ komisch ist, warum bist du nicht gleich gegangen? Hättest dir was einfallen lassen können, dass dein Freund auf dich wartet oder so was.«

»Kam mir nicht in den Sinn in dem Moment. Und ich sag ja, er war ja auch ganz nett.«

»Okay, und jetzt denkst du, dass er dich stalkt. Hast du ihn gesehen? Wo hast du ihn gesehen? Ist er jetzt hier? Zeig ihn mir.«

Jenny hat sich aufrecht hingesetzt, die angefangene Zigarette schmeißt sie halbgeraucht in die leere Bierflasche. Sie ist gespannt wie eine Metallfeder.

»Ich weiß nicht. Jetzt gerade sehe ich ihn nicht.«

Ann schaut sich vorsichtig um, über die linke Schulter hinweg, dann über die rechte.

»Nein, ich sehe ihn nicht. Aber ich hab so ein komisches Gefühl seit zwei oder drei Tagen, als ob er mir nachstellt. Ich meine, seinen Blick zu spüren, ganz nah.«

»Hast du ihn denn konkret gesehen in diesen zwei, drei Tagen?«

»Nein, ich glaub nicht. Aber ich spüre es doch. Kennst du so was nicht? Als ob dich jemand die ganze Zeit beobachtet. Ich fühl mich nur zu Hause sicher, aber nachts denke ich, vielleicht steht er draußen vor dem Haus und schaut hoch in mein Fenster. Ich hab mich nicht getraut, rauszugucken.«

»Mädchen, kann es sein, dass du es dir einfach vorstellst, dass deine Fantasie mit dir durchgeht?«

Jenny zündet sich die nächste Zigarette an und lacht nervös.

»Kann sein. Ich weiß nicht. Ich glaub nicht.«

Ann schüttelt den Kopf und blickt zu Boden. Wir schweigen lange. Ann reißt Grashalme heraus und zerteilt sie in kleine Teile, sie steckt sich einen Fetzen sogar in den Mund, kaut darauf, besinnt sich, spuckt es aus.

»Könnt ihr mich heute nach Hause begleiten?«, fragt sie dann.

Sie schaut zuerst Jenny, dann mich an.

»Ja klar, ich begleite dich«, sage ich sofort zu.

»Na klar kommen wir mit«, stößt Jenny zusammen mit einer Rauchwolke heraus.

»Wo sind die Jungs?«, will ich wissen.

»Keine Ahnung, was die gerade wieder anstellen. Mit denen brauchst du nicht fest zu rechnen, sie kommen und gehen, wann es ihnen beliebt, sie sagen nie Bescheid. Vasi ist noch der Zuverlässigste, er schreibt mir manchmal, was er so treibt. Max und Jürgen sind wie zwei Teenager, unvorhersehbar, chaotisch, die haben Flöhe im Kopf. Die gehen oft Skateboard fahren auf dem Platz vor der Stadt. Kennst du den?«

»Ja, ich glaub schon.«

»Vielleicht sind die gerade dort. Soll ich die mal anrufen?«

»Brauchst du nicht. Vielleicht seh ich sie nächstes Mal. Oder ich fahr mal zu dem Platz. Was machen die eigentlich beruflich?«

Ich bin sehr neugierig auf die Antwort. Straßenkehrer, Polizist, Anwalt, Ausdruckskünstler? Ich bin auf alles gefasst.

»Max ist in einer Werbeagentur, Jürgen hat zwei Jobs, er kellnert und macht Umzüge. Schwarz, glaub ich. Und ab und zu legt er auf in Clubs. Und Vasi ist in einer Bank, ganz seriös mit Anzug und so, stell dir das vor! Er hat ja auch zwei Kinder, für ihn ist der Job ganz wichtig.«

Okay, das ist spannend, denke ich mir.

»Hätte ich nicht gedacht.«

»Ja nee, denkt man nicht von denen. Aber so ist es, die Menschen sind oft für eine Überraschung gut.«

»Und du, was machst du eigentlich?«

»Ich? Ich bin beim Theater. Also Schauspielerin. Manchmal auch im Fernsehen, so Krimis, da spiel ich ab und zu mit, bisher nur Nebenrollen.«

»Hab ich dich vielleicht schon mal gesehen?«

»Ich weiß nicht. Schaust du denn Krimis?«

»Früher schon. Nordkrimis, die hab ich gemocht. Oder so mit Lokalkolorit, irgendwo im Alpenvorland.«

»Ah ja, kenn ich. So mit Humor und so. Die mag ich gar nicht. Ist mir viel zu albern. Wenn Krimi, dann richtig ernst, damit kann ich arbeiten. Aber ich versteh schon, das Lockere und Komische in Verbindung mit einem Mord, das ist schon lustig.«

»Ja, es geht auch nicht so darum, dass jemand ermordet wird, aber die ganze komische Situation, Polizisten, die nichts auf dem Kasten zu haben scheinen, und die lösen dann einen Fall nach dem anderen und klopfen dabei auch noch lustige Sprüche, das hat mir schon gefallen, war so unaufdringlich, entspannend.«

»Jedem das Seine«, meint Jenny und zwinkert mir zu.

Meine Gedanken schweifen ab. Was macht sie wohl gerade? Gibt sie ihren Alten Medikamente? Spricht sie mit einer netten Oma? Hilft einem Opa beim Aufstehen?

Ich frage Jenny nach ihr.

»Hat sie was davor gemacht? Oder hat sie schon immer als Altenpflegerin gearbeitet?«

»Solange ich sie kenne, das müssen jetzt so fünf Jahre sein, war sie immer in der Pflege. Sie hat richtig Talent dafür, und Bock hat sie auch. Ich könnte das nicht! Ständig die gleichen Gespräche, die gleichen Handgriffe, und der Uringeruch.«

»Ich glaube, sie hat früher als Verkäuferin gearbeitet, Schuhe oder Bücher, weiß ich nicht mehr«, schaltet sich Ann dazu. »Sie hat dann nebenbei Soziale Arbeit studiert und im Altenheim gejobbt. So kam sie wahrscheinlich dazu.«

»Ihr seid aber ganz eng jetzt, oder?«, fragt Jenny ungeniert. »So richtig zusammen, oder?«

»Naja«, weiß ich gar nichts zu sagen. »Vielleicht, ich weiß es nicht. Wir kennen uns ja erst seit Kurzem.«

»Ach, da mach dir mal keine Sorgen, sie hat da keine Bedenken«, lächelt Jenny.

»Ja, sie hat mir erzählt, sie wohnt in so einer WG, wo sie alles teilen und so.«

»Ja ja, die WG. Eine Kommune, kann man schon sagen. Ich war auch mal Teil davon.«

»Echt jetzt? Wie viele Leute sind es denn, die da zusammen wohnen?«

»Ach, nicht viele, so vier, fünf, glaub ich. Als ich da war, waren wir zu sechst, drei Jungs, drei Mädels.«

»Und warum bist du ausgezogen?«

»War mir dann irgendwann zu viel Liebe drin. Also versteh mich nicht falsch, es war super dort, die Leute verstehen sich richtig gut. Klar, es gibt auch mal Streit, aber meist um Kleinigkeiten. Wer wem gehört oder solche Dinge, das hat keine Rolle gespielt, es gab auch keine Eifersucht, keinen Hass. Ich fand’s sehr schön dort. Aber wie gesagt, irgendwann war zu viel Gemeinsamkeit, zu viel des Teilens für mich. Ich hab da gerade auch meinen Freund kennengelernt, und er stand da nicht so drauf, auf den Lebensstil. Aber mach dir keine Gedanken über sie, sie ist echt eine liebe Seele, sie hat das Herz am rechten Fleck, wie man so schön sagt, und sie wird dir nicht wehtun, nicht absichtlich zumindest.«

Ich nicke. Ich verstehe. Und verstehe auch nicht. Das ist alles neu für mich. Bisher waren Leute, mit denen ich zu tun hatte, Menschen wie du und ich, ganz gewöhnliche, stinknormale Leute mit Jobs, klassischer Beziehung und Erziehung, ein paar Hobbys. Sie fahren in den Urlaub, machen Selfies, führen ein sauber gepflegtes Instagramprofil, haben Hund und Garten, Rasenmäher und ein Zeitungsabo.

Warum ausgerechnet ich da anders bin, oder gerade anders werde, oder anders zu werden versuche, das ist das Spannende. Ich denke, dass es etwas Tieferes, Substanzielleres gibt als den Alltag, den wir so leben. Irre ich mich? Vielleicht.

Und was ist mit ihr? Wie kam sie zu ihrer Lebensweise? Was bewegt sie? Woran glaubt sie? Ich weiß es nicht. Ich muss es unbedingt herausfinden.

35

Ann wird langsam ungeduldig, sie will nach Hause. Jenny und ich begleiten sie.

Es ist jetzt richtig voll auf dem Platz, ein schöner, lauwarmer Sommerabend. Hier und da tönt Musik aus mitgebrachten Lautsprechern, es wird gelacht, geredet, irgendwo spielt jemand Gitarre. Die Grüppchen sind über die ganze Wiese verteilt. Wir schlängeln uns hindurch und sind bald in der U-Bahn.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir fahren müssen, Ann wohnt in einem Stadtteil, in dem ich bisher nicht war. Sie verhält sich ruhig, ihn hat sie noch nicht gesehen.

Nachdem wir zwanzig Minuten in der überfüllten U-Bahn gefahren sind, steigen wir aus und laufen durch die Straßen. Anns Wohnung liegt im zweiten Stock eines Altbaus.

»Wollt ihr noch auf einen Tee oder Kaffee mit hochkommen?«, fragt sie erleichtert, als wir vor der Haustür stehen.

»Nee, ich muss nach Hause, hab morgen früh eine Probe, es steht die Premiere an«, sagt Jenny.

Ich zögere und komme schließlich mit, ich bin neugierig, wie Ann so wohnt.

Jenny verabschiedet sich und läuft zurück. Sie hat wohl gar keine Angst, dass Anns Stalker sie verfolgt.

Anns Ein-Zimmer-Appartement ist klein, aber gemütlich. Sie hat sogar Hauspantoffeln im Flur stehen, das Zimmer selbst ist in Pastelltönen ausgestattet. Es gibt ein Schlafsofa, einen großen Esstisch mit Barhockern, ein großes Bücherregal und einen Couchtisch, der sofort ins Auge springt. Die Tischplatte besteht aus einem ungleichmäßigen Baumstamm, man sieht sofort, dass es ein in Handarbeit gefertigtes Unikat ist. Ich spreche Ann darauf an.

»Ja, ein sehr schöner Tisch, etwas unpraktisch, weil er viel Platz einnimmt wegen der unregelmäßigen Abmessung, aber er bedeutet mir viel. Den hat ein guter Freund komplett selbst gemacht, er stellt individuelle Möbel her, meist aus Holz und Materialien, die er irgendwo findet oder geschenkt bekommt.«

»Ich wünschte, ich könnte auch so was«, gebe ich zu. »Also Sachen mit meinen Händen machen, aus irgendwelchen Materialien etwas Schönes herstellen, das kann ich gar nicht.«

»Ich glaub, das kann jeder lernen. Man braucht nur genügend Zeit und Muße. Und vielleicht jemanden, der es einem zeigt und einem über die Schulter schaut. Der Freund von mir zum Beispiel, der hat Lehramt studiert, hat in seiner Freizeit dann angefangen, den Wald nach Totholz abzusuchen und die Teile zu Möbeln zu verarbeiten. Hat sich alles selbst beigebracht, er ging zunächst in eine Hobbywerkstatt, wo man alle möglichen Werkzeuge mitbenutzen kann, hat jetzt selbst eine kleine Werkstatt in der Garage. Du siehst also, es ist ein stetiger Prozess, von null Können wächst man immer weiter.«

»Aber ein gewisses Talent oder handwerkliches Geschick braucht man, glaub ich, schon.«

»Ich denke, es geht mehr um Motivation und Interesse und darum, ob dein Herz für die Sache brennt. Dann ist vieles möglich. Ich sag nicht, dass alles möglich ist, aber zu einem gewissen Grad des Könnens, der Meisterschaft kann ich kommen, wenn ich nur will und Arbeit da reinstecke.«

Ich bleibe noch etwas, wir trinken Tee und reden über unsere Lieblingsbücher. Ich frage, worum es im Buch ihres Bruders geht, doch sie will nichts erzählen, ich solle es selbst erfahren.

»Lies einfach. Lass dir Zeit dabei«, meint Ann.

Ich gehe, als die Sonne bereits untergeht. Wir verabschieden uns herzlich und umarmen uns. Als ich aus dem Hauseingang trete, schaue ich mich in der Gegend umher. Menschenleer. Der Stalker ist nicht zu sehen. Ich habe Ann gesagt, dass sie mich jederzeit anrufen kann. Sie steht oben am Fenster und winkt mir zu. Ich winke zurück und gehe zur U-Bahn.

36

Am nächsten Abend fahre ich zum Skaterplatz. Und tatsächlich, Vasi, Max und Jürgen sind da. Sie sind ziemlich überrascht, als sie mich sehen. Wir quatschen über dies und das, ich erzähle ihnen von gestern.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es diesen Stalker gibt«, sagt Max und zieht an seiner Zigarette. »Sie hat so Phasen. Ich sag nicht, dass sie verrückt ist oder so, aber sie hat so Verfolgungsangst allgemein. Es ist nicht das erste Mal, dass sie glaubt, jemand sei hinter ihr her. Einmal war es ein früherer Klassenkamerad, ein anderes Mal ein Obdachloser, dem sie ein paar Münzen zugesteckt hat. Wir mussten sie dann eine Zeit lang nach Hause begleiten. Aber passiert ist noch nie was. Und gesehen haben wir die Typen auch nie.«

»Ich glaub, sie ist einsam«, meint Vasi. »Und braucht Aufmerksamkeit. Deshalb erfindet sie die Geschichten.«

»Aber sie sah wirklich besorgt aus gestern«, entgegne ich. »Ich glaub nicht, dass sie sich das bloß ausgedacht hat. Die Nervosität kann man nicht spielen.«

»Glaub mir, sie ist gut darin. Oder sie glaubt selbst so fest daran, dass sie es für real hält.«

Max gibt die Zigarette an Jürgen weiter und steigt auf sein Skateboard.

»So, ich dreh noch eine Runde.«

Wir sitzen auf einer Bank und sehen ihm zu, wie er die Pipeline runterdüst und einen Sprung auf eine Metallstange übt, immer wieder, bis ihm das gelingt. Wir applaudieren. Er verneigt sich theatralisch und macht weiter.

Ich bleibe bis zum Abend bei den Jungs, wir haben eine gute Zeit und lernen uns besser kennen. Ich erzähle ihnen, dass die Mädels mir über ihre Jobs erzählt haben.

»Ja, meine beiden Kleinen fordern schon einiges ab von mir und meiner Frau, aber siehst du, ich hab Zeit für das hier, also kann es doch so schlimm nicht sein.«

Er lacht müde und macht sich ein Bier auf.

Man sieht ihm an, dass er kaum schläft. Die Kleinen scheinen ihn richtig auf Trab zu halten. Er trinkt sein Bier im Nu aus und verabschiedet sich auch schon, er muss rechtzeitig zu Hause sein, um die Kinder ins Bett zu bringen.

Max, Jürgen und ich bleiben noch eine Stunde. Sie rauchen einen Joint, ich lasse mich von dem Geruch einfangen. Wir hören Musik, die die anderen bei ihren Tricks begleitet. Wir reden nicht viel und lassen es uns gut gehen. Dann verabschiede ich mich von den beiden und mache mich auf den Weg nach Hause.

Vielleicht steht sie ja vor meiner Tür und wartet, bis ich nach Hause komme. Doch meine Hoffnung wird enttäuscht. Als ich die Tür hinter mir verschließe und mich in der dunklen Wohnung auf den Futon setze, ist es so leise wie lange nicht mehr. Ob es Einsamkeit ist, was ich höre? Das stetige Summen in meinen Ohren ist heute besonders laut. Ich gehe früh schlafen.

37

Am nächsten Morgen klingelt sie an der Tür. Ich schrecke aus dem Schlaf auf, ziehe mir hastig was über und laufe aufmachen. Sie ist es wirklich.

»Hey, du Schlafmütze, es ist schon nach sechs!«, sagt sie gut gelaunt.

»Was, so früh! Ich freu mich, dass du da bist. Aber so früh!«

Sie huscht an mir vorbei.

»Ich bin schon seit zwölf Stunden wach, ich hatte Nachtdienst. Ich hab guten Kaffee dabei, ich mach uns gleich einen.«

Sie hat sogar ihre eigenen Kaffeutensilien mitgebracht, einen Porzellanfilter, eine Glaskanne, Filterpapier. Ich beobachte sie dabei, wie sie alles feierlich vorbereitet, das Wasser zum Kochen bringt, den Porzellanfilter mit Filterpapier auslegt, das Papier mit heißem Wasser befeuchtet, dann eine genau abgemessene Menge Kaffeepulver in den Filter gibt und das heiße Wasser langsam durchfließen lässt, immer wieder welches nachgießt und genüsslich wartet.

Sie würdigt mich keines Blickes, ist vollkommen auf den Prozess konzentriert, und ich halte meinen Mund, ich will ihr den Moment nicht verderben.

Als der Kaffee durch ist, macht sie uns zwei Becher voll. Ich muss zugeben, er riecht köstlich. Wir setzen uns im Wohnzimmer hin und machen in vollkommener Stille den ersten Schluck.

»Ahh«, entfährt es ihr. »So ist es schön. Ich bin total fertig nach der Schicht, hab nichts gegessen, es war so viel Stress heute. Wir hatten einen Todesfall in der Nacht. Es war zwar abzusehen, dass sie es nicht mehr lange macht, aber dann kommt es meist doch plötzlich und überraschend. Ich hab die Frau gemocht.«

Ich streichle ihre Schulter und gebe ihr einen Kuss auf den Hals.

»Schade, dass du keinen Balkon hast, sonst könnten wir jetzt draußen sitzen und der aufgehenden Sonne zuzwinkern.«

»Können wir doch.«

Ich ziehe die Vorhänge zurück, mache das Fenster auf und lasse die kühle Morgenluft herein. Die Sonne ist schon erstaunlich weit oben für diese Uhrzeit.

»Oh ja, das ist tatsächlich fast wie auf dem Balkon«, sagt sie, ohne ihre Ironie verstecken zu wollen.

Wir sitzen lange vor dem offenen Fenster, genießen die frischen Sonnenstrahlen, reden nur wenig, tauschen Blicke, lächeln. Irgendwann legt sie sich hin und schläft sofort ein. Ich decke sie zu, setze mich neben sie, lehne mich an die Wand. Ich nehme das Buch von Ann zur Hand und fange an zu lesen.

38

Der Titel ist in schlichten schwarzen Buchstaben auf den weißen Umschlag gedruckt. Keine Angaben zu Erscheinungsdatum oder Ort, keine Einleitung, keine Überschriften. Der Text beginnt sofort, in kleiner Schrift, ohne Absätze, ein unendlicher Fluss aus Buchstaben.

Es gibt keine Dialoge, keine Handlung, keinen Spannungsbogen. Der Text ist sinnlos und gleichzeitig macht er Sinn. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gelesen. Es ist ein Buch ohne Inhalt. Es ist ein Buch der Stille. Es ist ein Buch, das ich schreiben würde, wenn ich schreiben würde. Das Buch der Möglichkeit, das Buch der Geburt, das Buch des Seins.

Der Text ist reine Musikalität, manchmal reimt es sich, oft hört es sich beim Lesen wie gereimt an, es fließt und klingt wie ein rauschender Fluss, wie ein reiner Bergbach, eine Erholung vom Alltag, ein Eingehen in die Ungeschichte, ein Verlassen der Zeit. Der Text erzählt nichts Bestimmtes und erzählt alles. Vom Ursprung, vom Ende, vom Leben, vom Tod. Von der Befreiung. Vor allem vom Freisein. Als menschliches Wesen, als Tier, als Geist, als Seele, ohne Seele, ohne Gedanken, ohne Gehirn und Gedärm. Der Text ist reine Essenz, wenn man alles Inhalt, Geschehen, Drama, Komödie, Horror extrahiert. Es ist farblos, geschmacklos, lautlos.

Wie kann man so etwas schreiben, denke ich, während ich die ersten Seiten wieder und wieder durchlese. Was muss es für ein Mensch sein? Was hat er erfahren? Wie lebt er? Kann er überhaupt leben?

Ich lege das Buch zur Seite, schließe die Augen.

Ich erinnere mich an eine Idee, die ich hatte, als ich mit dem Gedanken spielte, ein Buch zu schreiben.

Eine obdachlose Frau im Rollstuhl sitzt an einem sonnigen Frühlingstag mitten auf einem belebten Platz in der Innenstadt. Alles an ihr ist zerschlissen, die Schuhe, die Hose, der Pullover. Ihr graues Haar ist vor Schmutz zu Knoten und Locken verwoben. Sie hat nichts dabei, kein Essen, nichts zu trinken, keine Tüten, wie es viele andere Obdachlose bei sich haben, nichts. Vielleicht hat sie ihre wenigen Habseligkeiten irgendwo deponiert, man weiß es nicht. Es kann aber gut sein, dass sie überhaupt nichts besitzt.

Sie sitzt da, etwas zusammengesunken, ihr Oberkörper zur Seite gekippt. Den Rollstuhl bewegt sie nicht, sobald sie auf der richtigen Stelle auf dem Platz steht. Es ist neun Uhr früh, pünktlich sitzt sie da, auf dem kreisförmigen Platz, nicht weit von einem Wasserspiel, das noch nicht eingeschaltet ist. Sie sitzt da, eine Stunde, zwei Stunden, schaut sich das Treiben an, streckt ab und an einen Arm hoch, um die müden Knochen zu entspannen. Sie ist sehr dünn, vielleicht isst sie nur einmal am Tag eine Kleinigkeit, vielleicht isst sie mehrere Tage am Stück nichts. Doch es ist ihr nicht wichtig.

Der Platz wird immer belebter, Leute laufen in unterschiedlichste Richtungen, sie haben was vor, haben Kaffeebecher dabei oder Reisegepäck oder Handys oder Luxustaschen. Manche haben mehr Zeit, sie sitzen auf kleinen, runden Steinen, die um das Wasserspiel herum angeordnet sind und wie Hocker aussehen, trinken Kaffee aus Pappbechern, warten auf nichts, manche lassen sich die Sonne aufs Gesicht scheinen, manche sitzen mit dem Rücken zur Sonne, starren auf ihre Telefone, telefonieren, essen. Die obdachlose Frau sitzt auf ihrem Platz, döst ein, wacht wieder auf.

Wer weiß, vielleicht ist sie gar nicht obdachlos, vielleicht hat sie eine kleine Wohnung irgendwo in der Nähe und hat nur Schwierigkeiten, sich um ihr Aussehen und ihren Körper zu kümmern. Vielleicht ist sie so einsam, dass sie jeden Morgen ihre Wohnung verlässt, um den ganzen Tag unter Menschen zu sein, nicht mit ihnen zu sprechen, nein, das braucht sie nicht, aber um Menschen um sich zu haben, das Treiben zu spüren, zu beobachten.

Doch warum bleibt sie nicht in der Wohnung und schaut fern? Das machen doch viele so, wenn sie einsam sind. Doch vielleicht hat sie keinen Fernseher. Oder er ist kaputt und sie hat niemanden mehr, der ihr das Gerät reparieren kann. Oder sie mag kein Fernsehen. Vielleicht kennt sie schon alles, kennt die ganzen Seifenopern und Gerichtsshows, die Liebeskomödien und Krimis.

Doch wenn ihr die ganzen Sendungen zu langweilig sind, warum sitzt sie dann da mitten in der Fußgängerzone und scheint sich nicht zu langweilen? Es passiert doch nichts. Oder immer das Gleiche, Menschen laufen umher, Menschen bleiben stehen, Menschen sitzen, Straßenkehrer fahren in ihren orangenen Fahrzeugen vorbei, Lastwagen drehen langsam ihre Runden und liefern ihre Waren zu den Ladengeschäften. Nach zehn Uhr gibt es nur selten Fahrzeuge, nur eine größer und hektischer werdende Menschenmenge.

Was sucht sie also hier? Sucht sie vielleicht gar nicht? Hat sie das Leben vielleicht längst satt und sehnt sich nach dem Tod, will sich aber nicht selbst umbringen?

Die Frau lässt ihren Pullover auf der einen Schulter herunter und lässt sich vom wärmenden Licht bestrahlen. Einige Minuten später zieht sie den Pulli wieder hoch, als würde es ihr auf einmal zu kalt werden. Eine Frau kommt zu ihr und will ihr Geld geben. Sie schüttelt nur leicht mit dem Kopf und nimmt es nicht an. Warum nicht, weiß kein Mensch.

Es gibt zahlreiche Bettler in der Stadt, die einen direkt ansprechen und um ein paar Münzen bitten. Doch diese Frau nimmt kein Geld an, auch wenn man es ihr unaufgefordert anbietet. Hat sie keine Bedürfnisse? Sie muss doch etwas essen und trinken. Wahrscheinlich isst sie in einer Obdachlosenunterkunft oder draußen vor dem Bahnhof, wo sie jeden Tag Essen verteilen.

Hat sie Verwandte? Kinder? Enkel? Vielleicht sogar einen Mann? Alles unwahrscheinlich. Und wenn, dann haben sie seit vielen Jahren keinen Kontakt. Vielleicht sind die Kinder erfolgreiche Anwälte, Ärzte oder Architekten. Doch die Mutter hatte immer wieder Probleme mit dem Alkohol. Und in letzter Zeit wurde es immer schlimmer, sie wollten keinen Kontakt mehr, zumal die Mutter jede Hilfe ablehnt.

Alles nur Spekulation. Tatsache ist nur, dass sie jetzt da sitzt, in ihrem Rollstuhl, seit Stunden unbewegt, und die Sonne sie stets von der gleichen Seite anleuchtet. Sie hat kein Ziel, den Leuten ist sie egal, ihr Dasein besteht aus bloßem Existieren. Die Knochen tun ihr weh, sie erwartet nichts mehr vom Leben.

Wie muss sich so jemand fühlen? Was geht in ihr vor? Huschen Gedanken in ihrem Kopf oder ist sie gedankenlos?

Diese Idee habe ich nicht zu Papier gebracht, doch in gewisser Weise ähnelt sie dem Buch. Es geht um die Frage nach dem Nichts. Was erzählt man, wenn es keine Geschichte gibt, keine Handlung, keine Initialzündung, wenn alles stockt und stehen bleibt, noch bevor es richtig angefangen hat oder wo alles bereits vorbei ist?

Das Weiße Buch hat es anscheinend geschafft, das Nichts zu erzählen.

Ich lege mich neben sie und schlafe bald ein, von ihrer Körperwärme eingebettet.

39

Am späten Nachmittag ist sie wieder fit. Wir gehen aus. Sie erzählt mir von ihrer Schicht und dass die nächsten Tage genauso anstrengend werden. Es finden gerade viele Neuaufnahmen statt, weil viele Plätze frei werden. Sie weiß auch nicht, warum gerade so viele sterben.

Sie will nicht in ein Café oder Restaurant gehen, sie will nur in den Park oder spazieren.

»Überall muss man kaufen, kaufen, konsumieren. Das geht mir auf den Geist«, sagt sie genervt. »Lass uns zu den anderen gehen, vielleicht sind sie ja da.«

Wir steuern den Bahnhofsplatz an. Dort treffen wir alle außer Ann. Sie sei bereits zwei Tage nicht mehr da gewesen und antwortet nicht auf Textnachrichten. Wir machen uns Sorgen und beschließen, zu ihr zu fahren und nach dem Rechten zu sehen.

Sie macht nach gefühlter Ewigkeit auf. Sie bleibt in der Tür stehen und lässt uns nicht durch.

»Was ist los?«, fragt Jenny.

»Er ist bei mir.«

»Wer, der Stalker?«

Ann kichert und nickt. Wir tauschen Blicke aus.

»Das ist mal eine Wendung«, meint Jenny.

»Ja, er hat mich beschattet, als ich von der Arbeit kam. Ich konnte es nicht mehr ertragen, hab meinen ganzen Mut zusammengenommen, mich umgedreht, ihm in die Augen geschaut und gefragt, warum er mich verfolgt.«

»Und er?«, fragt Jenny mit offenem Mund.

»Er sagte, dass er sich in mich verliebt hat und mich jetzt ständig sehen muss. Und dass es ihm leid tut. Jedenfalls kamen wir ins Gespräch. Und na ja, wie ich schon gesagt habe, er ist sehr nett. Wir sind dann in der Gegend herumspaziert und haben gesprochen. So kam eins zum anderen.«

»Mädchen, du machst mich fertig!«, ruft Jenny und lacht. Sie klopft sich so richtig auf die Schenkel.

»Pssst!«, macht Ann, »Er schläft noch. Wir waren gestern noch spät unterwegs.«

»Alles klar, du böses, böses Ding«, lacht Jenny und umarmt Ann. »Wir sind ja schon weg.«

Ann lächelt uns hinterher und winkt uns zum Abschied. Kopfschüttelnd machen wir uns auf den Rückweg.

»Also, irgendwie hat sie nicht alle Latten am Zaun«, meint Max. »Man lädt doch nicht irgend so einen Kerl, der einen verfolgt, nach Hause ein.«

»Ach, lass sie doch. Solange sie glücklich ist«, klopft ihm Jürgen auf die Schulter.

»Wir müssen sie aber im Auge behalten die nächsten Tage«, meint Vasi, »wer weiß, was das für ein Typ ist, vielleicht irgendein Irrer, der sich leichtgläubige Opfer wie Ann sucht.«

»Sie ist nicht leichtgläubig, sie hat Menschenvertrauen«, meint Jenny.

»Besser, sie hätte Gottesvertrauen«, lacht Max.

»Da spricht grad der Richtige«, sagt Jenny und bleibt plötzlich stehen.

Wir sind auf einer Brücke, die über den Fluss führt, eine große Brücke für Autos, Radfahrer, Fußgänger. Jenny möchte unbedingt ein Foto von uns allen machen und bittet ein junges Pärchen, das gerade vorbeiläuft, uns zu fotografieren. Im Hintergrund sieht man den Fluss und den großen Kirchturm. Wir rücken zusammen und lächeln in die Kamera. Keine Ahnung, ob das Foto gut geworden ist, aber Jenny scheint zufrieden zu sein und verspricht, es allen zu schicken.

»Wollt ihr zum Bahnhof oder was habt ihr heute noch vor?«, fragt Jenny, als wir die Brücke verlassen und in eine belebte Straße voller Cafés und Kneipen kommen.

»Also, ich bin dafür, dass wir uns irgendwo hinsetzen und was trinken«, sagt Max.

»Ich bin dabei«, sagt Jenny.

Vasi nickt Zustimmung.

»Ich bleib aber nicht lang«, meint er und schaut auf sein Handy. »Höchstens eine halbe Stunde.«

»Wie immer«, kann sich Max die Bemerkung nicht verkneifen. Er klopft Vasi auf den Rücken.

Sie hat zunächst keine Lust, aber schließlich bleiben wir und haben einen netten Abend. Die anderen lassen sich ein Bier nach dem anderen bringen, Vasi trinkt einen Rotwein und verschwindet. Wir reden über das Wetter, die Wale und die Welt.

Ich bringe in Erfahrung, wer der Bruder von Ann ist und was er macht.

»Aktuell ist er in Japan, glaub ich, in so einem Zen-Kloster, muss schon das dritte Jahr sein, dass er dort ist«, erzählt Jenny. »Ich hab ihn mal getroffen, als er zu Besuch war. Er hatte einen kahl rasierten Kopf und war sehr freundlich und still.«

»Die meditieren in solchen Klöstern stundenlang«, sagt Max.

»Zazen nennt man das«, ergänze ich. »Und die arbeiten dort viel oder gehen betteln.«

»Also das Kloster, wo Anns Bruder ist, befindet sich sehr abgelegen hoch oben in den Bergen. Im Winter ist es abgeschnitten von der Welt, es schneit und ist kalt. Und die sind Selbstversorger dort, haben eigenes Gemüse und Reis, entsprechend hart müssen die arbeiten, um das alles zu stemmen. Das Leben dort ist also kein Zuckerschlecken. Aber Anns Bruder hat sich nicht beschwert, ihm scheint es dort zu gefallen.«

»Habt ihr sein Buch gelesen?«, will ich wissen.

»Nee, Ann lässt da keinen ran.«

Ich verschweige, dass Ann mir das Buch gegeben hat. Die Tatsache, dass sie mir das Buch anvertraut hat, wird für mich immer mysteriöser.

Nach ein paar Stunden Beisammenseins verabschieden wir uns von den anderen. Sie kommt mit zu mir.

»Ich bleib aber nur bis zehn, dann muss ich zum Nachtdienst.«

Sie schlägt vor, dass ich später mitkomme und ihr bei der Arbeit über die Schulter schaue. Nach kurzem Zögern sage ich zu.

40

Wir kommen an, es ist ein altes Schloss, das zu einer Altersresidenz umfunktioniert wurde. Es gibt zahlreiche Zimmer auf vier Stockwerken, alle sind gut ausgestattet und ähneln eher Hotelzimmern. Es gibt viele Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bewohner, es finden zahlreiche Veranstaltungen statt, mitorganisiert von den Senioren selbst.

Sie ist die gute Seele des Hauses, ich merke sofort, dass die alten Frauen sie lieben. Es ist eine reine Frauenresidenz, die Damen fühlen sich anscheinend sehr wohl ohne männliches Getue.

»Wenn wir Männer sehen wollen, dann gehen wir einfach jederzeit in die Stadt, treffen uns mit Freunden, haben Rendezvous, bleiben nächtelang weg«, erzählt mir eine charmante Dame Mitte siebzig. Sie bewohnt ein schönes kleines Appartement mit Gartenblick. Sie will uns gar nicht gehen lassen, doch wir müssen weiter zur Medikamentenausgabe.

»Der Spaß kostet aber nicht wenig, oder?«, frage ich, als ich ihr helfe, die Tabletten abzuzählen.

»Die meisten hier sind vermögend, das stimmt schon. Aber wir bieten auch ein paar Plätze für Menschen, die nichts haben, finanziert durch Spenden. Die anderen Bewohner steuern auch einen Teil dazu, aus Solidarität.«

Ein interessantes Konzept, finde ich, und wenn es funktioniert, dann ist es doch eine gute Sache.

Sie stellt mich einigen Damen vor und sagt, ich sei ein guter Freund. Die Damen zwinkern uns verschwörerisch zu, als ob sie uns durchschaut hätten.

»Lass uns bald wieder auf die Insel fahren«, schlägt sie vor, als wir mitten in der Nacht im Bereitschaftsraum sitzen und starken Kaffee schlürfen. »Ich will Eduard kennenlernen, und das Meer fehlt mir auch.«

Sie geht und macht ihre Runde, während ich im Buch weiterlese. Ich bin fast durch, und da es keine Handlung gibt, bin ich an jeder Stelle des Buchs wie am Anfang, jeder Satz fühlt sich neu an und steht für sich. Langweilig wird es nicht. Es bringt die Gedanken zur Ruhe, Stille stellt sich ein, ich genieße das Lesen und vergesse mich. Ein wunderbares Meditationsobjekt.

Es macht mir nichts aus, dass das Buch bald zu Ende ist. Ich nehme mir vor, eine Kopie davon zu machen. Ich will es in einem Laden ausdrucken und zu einem Manuskript binden. Ich will Ann natürlich fragen, ob es für sie in Ordnung geht, dass ich eine Kopie für mich behalte.

Ich vertiefe mich in das Buch und vergesse die Zeit. Als sie eine Stunde später zurück ist, denke ich, es seien nur wenige Minuten vergangen. Sie sieht nervös aus.

»Was ist los?«

»Sie stirbt.«

»Wer?«

»Komm.«

Wir gehen in den zweiten Stock. In das Zimmer der charmanten Dame. Sie liegt da und bewegt sich nicht.

»Ein Schlaganfall. Sie atmet noch. Aber sie ist nicht mehr zu retten. Der Arzt war da. Sie wird morgen nicht mehr zu sich kommen.«

Sie hält die Hand der Frau und weint still. Die Dame ist nicht mehr ansprechbar. Manchmal öffnet sie die Augen, doch ohne Orientierung in ihrem Blick. Sie gibt keinen Ton von sich, atmet ruhig, wie ein angeschossenes Tier, das seine Lage akzeptiert hat und nicht mehr dagegen ankämpft.

Wir bleiben an ihrem Bett, bis sie stirbt. Still und wortlos verlassen wir das Zimmer.

Sie will nach Hause. Wir nehmen ein Taxi. Sie verabschiedet sich müde.

»Hol mich morgen ab. Fahren wir ans Meer?«

Ich verspreche es ihr.

41

Am nächsten Morgen bin ich bei ihr. Sie schläft bis Mittag, dann macht sie sich fertig, nimmt nur einen Rucksack mit. Wir fahren zum Bahnhof. Den anderen haben wir Bescheid gesagt, vielleicht kommen sie am Wochenende nach.

Wir nehmen den Abendzug, der etwas länger fährt. Um elf Uhr sind wir auf der Insel. Sie hat eine schlichte Ferienwohnung organisiert.

»Soll ich Eduard fragen, ob er ein Zimmer für uns hat in seinem Haus?«

»Nein, ich will ihn erst persönlich kennenlernen.«

Als wir am nächsten Tag zu Eduard gehen, ist er nicht in seinem Atelier. Ich klingle im Blauen Haus, doch keiner macht auf.

»Vielleicht ist er in der Kirche«, vermute ich. Wir gehen hin, doch außer ein paar brennenden Kerzen ist es menschenleer.

Ich weiß nicht weiter, also gehen wir an den Strand und verbringen den Rest des Tages damit, umherzuspazieren, Espresso zu trinken und in Büchern zu blättern, die wir aus einem Bücherschrank genommen haben.

»Wir versuchen es morgen nochmal«, beruhige ich sie. »Warum ist es dir eigentlich so wichtig, Eduard kennenzulernen?«

»Ich weiß nicht. Ich spüre irgendeine Verbindung zwischen uns. Lach nicht. Obwohl wir uns nicht kennen, fühle ich sein Wesen. Er ist Künstler, sagst du? Vielleicht muss ich mein Leben umkrempeln und auch eine Künstlerin werden. Dieses ganze Sterben im Heim, das macht mich mürbe.«

Sie lehnt sich an mich, wir sitzen in den Dünen, die Sonne spielt ihre letzte Melodie, bevor sie der Dunkelheit weicht.

»Ich habe Lust auf Wein«, sagt sie plötzlich. »Lass uns in ein schönes Café gehen und uns einen bestellen.«

An diesem Abend betrinken wir uns langsam und schlafen irgendwo in den Dünen. Ich weiß am nächsten Morgen nicht viel, nur, dass es schön war.

Die Kontrolle zu verlieren kann sich echt gut anfühlen. Der Nachteil am Alkohol, man fühlt sich danach schlecht. Ich jedenfalls muss die nächsten Tage mit Übelkeit und Elend kämpfen, mein Körper verträgt keinen Alkohol. Ihr geht es gut. Sie malt im Sand und wartet auf Eduard.

Und dann ist er da.

»Ich habe meinen Sohn besucht«, sagt er, als wolle er sich entschuldigen. »Wenn ich gewusst hätte, dass ihr kommt, hätte ich euch den Schlüssel dagelassen. Hier, unter dem Stein, da würde ich ihn verstecken. Ich konnte ja nicht wissen.«

Ich beruhige ihn. Die beiden sehen sich lange an.

»Ah, die nette Stimme am Telefon. Ja, so habe ich mir dich vorgestellt. Frech und lieb.«

Sie scheinen sich auf Anhieb zu verstehen. Noch am selben Abend malt er ein Porträt von ihr, sie steht ihm Modell.

»Eine schöne Frau, eine wunderschöne Frau. Und was für ein Profil. Was für Augen!«, sagt Eduard, und sie lacht, wird fast rot.

Ich merke schnell, dass zwischen den beiden eine besondere Energie fließt. Und ich merke, dass sie ein bisschen den Kopf verliert, dass sie absichtlich etwas Seltsames, etwas Befreiendes tun will. Ihre Arbeit im Altenheim hat ihr sichtlich zugesetzt, und jetzt will sie alles vergessen und sich fallen lassen, in ein Abenteuer, ins Nichts.

Ich verstehe sie und kann es ihr nicht verübeln. An diesem Abend verlasse ich das Atelier Richtung Strand. Sie bleibt da.

»Komm morgen früh, ja? Ich will allein sein.«

»Und Eduard?«

»Er malt an seinem Bild, während ich schlafen werde. Er hat mir ein Zimmer in seinem Haus überlassen.«

»Ich bleibe auch.«

»Nein, bleib heute in der Ferienwohnung. Ich will allein sein.«

Ich lasse sie und gehe an den Strand. Eduard kommt mit. Er schwärmt von ihr und denkt, er müsse mich beruhigen.

»Ich bin ein alter Mann, du musst dir keine Sorgen machen«, sagt er, und ich merke, dass wir an diesem Abend ohne es zu merken zum Du übergegangen sind. »Ich will nichts Körperliches mehr, aber künstlerisch sehe ich die Schönheit in ihr, diese Unabhängigkeit, diese Verletzbarkeit. Ich muss sie malen, verstehst du?«

Fieberhaft erzählt er mir in allen Einzelheiten, welche Farben er nutzen, welche Genauigkeit und Mühe er sich geben möchte. Ich höre ihm zu.

»Eduard, mal sie ruhig. Aber nur, wenn sie es will. Sie braucht jetzt etwas Abenteuer, und vielleicht ist deine Kunst genau dieses Abenteuer.«

42

Die nächsten Tage verbringen wir drei gemeinsam. Eduard macht sämtliche Fenster im Atelier auf, und es fühlt sich an, als ob wir draußen sitzen würden. Es ist erstaunlich windstill und heiß.

Eduard macht ständig Tee, sie posiert, mal nackt, mal angezogen, mal im Stehen, mal setzt sie sich auf einen Stuhl, und Eduard malt, ohne durchzuschnaufen, wie besessen, wie in Trance.

Es ist merkwürdig, aber während er malt, schaut er sie kaum an. Er scheint aus dem Gedächtnis zu malen.

»Du kannst mich ruhig anschauen, Eduard, ich hab da keine Hemmungen«, versichert sie ihm.

»Ich weiß, aber so male ich die Idee von dir, deine Essenz. Ich habe das Bild genau vor mir, das ich malen möchte, das ich malen muss.«

»Aber warum sitze ich hier dann, wenn du mich gar nicht ansiehst«, klingt sie fast beleidigt.

»Anders geht es nicht, ich muss deine Präsenz fühlen, und zwar genau dort, wo du gerade sitzt. Du bist meine Muse, und mit Musen geht man sehr sorgsam um. Man setzt sie auf ein Podest und ehrt sie.«

»Ah, du ehrst mich also. Und warum bietest du mir keinen Wein an?«

»Sofort.«

Und weg ist er, kommt eine Minute später zurück und öffnet eine Flasche Rotwein.

»Hier, meine Schöne, das Elixier.«

»Danke sehr«, macht sie einen Knicks im Sitzen und lacht.

»Möchtest du auch etwas?«

Ich schüttle den Kopf.

»Er ist ein langweiliger Abstinenzler, Eduard, lass ihn dort in der Ecke versauern«, sagt sie fast böse und lacht angestrengt. Heute ist sie irgendwie gehässig, so erlebe ich sie zum ersten Mal.

»Lass uns einfach weitermachen.«

Sie prostet uns zu und schlägt ihre schönen Beine übereinander.

Später, als wir auf der Couch sitzen, während Eduard am Waschbecken seine Pinsel auswäscht, frage ich sie, ob alles in Ordnung sei.

»Entschuldige«, sagt sie und fängt an zu weinen. »Ich wollte nur Spaß machen, ich wollte dich nicht verletzen, ich wollte ein bisschen sarkastisch sein. Habe ich dich verletzt?«

Sie streichelt mir über die Wange und gibt mir einen Kuss. Sie riecht nach Wein.

»Nein, ich nehme es nicht persönlich. Ich weiß, dass du grad etwas aufgewühlt bist«, beruhige ich sie. »Ich verstehe das ja, die Arbeit im Heim und so.«

»Es tut mir leid. Du langweilst mich nicht, und du bist der beste Mensch, den ich kenne.«

Sie lehnt sich an meine Schulter und umarmt mich.

»Na, ich sehe, euch geht es gut!«, zwinkert Eduard uns zu.

Die sauberen Pinsel legt er auf den Arbeitstisch und setzt sich zu uns. Er erzählt von seinem Sohn und dass er gerade eine schwierige Phase hat. Seine Frau ist weg, und er streitet sich um das Sorgerecht.

»Alles nicht so einfach«, seufzt Eduard.

Sie muntert ihn mit einem Glas Wein auf. Eduard tätschelt ihre Wange, fast väterlich sieht er sie an. Die beiden plaudern. Ich sitze wie ein Aussätziger daneben und fühle mich wie ein Zuschauer bei einem Theaterstück. Ich lehne mich zurück und genieße die Aufführung.

Und da bekanntlich das Beste zum Schluss kommt, schläft sie bald auf der Couch ein, und Eduard greift wieder zum Pinsel und malt die schlafende Muse mit schnellen, hektischen Strichen. Dann sagt er gute Nacht, und ich bleibe bei ihr, obwohl sie sie sich wahrscheinlich gewünscht hätte, heute allein zu bleiben.

Der Wein tut Wunder, und ich darf bleiben, darf neben ihr liegen, ihren Bauch streicheln und mich in den gemeinsamen Schlaf fallen lassen. Auf dem Stuhl liegt eine alte Decke, ich decke uns damit zu, mache das Licht aus und schlafe schnell ein. Ich bin müde und irgendwie glücklich.

43

Am nächsten Morgen bekommt sie eine Nachricht, Ann ist nicht in ihrer Wohnung und geht nicht ans Telefon. Jenny hat wohl noch einen Zweitschlüssel, den sie gerade holt. Etwas später folgt eine zweite Nachricht, Ann hat sich gemeldet. Sie ist mit ihrem Stalker abgereist. Wohin und wie lange, will sie später sagen. Wir sollen uns keine Sorgen machen.

»Sie ist so ruhig und wirkt so besonnen, ich hätte ihr so was nicht zugetraut«, sage ich.

»Stille Wasser sind tief, sagt man doch. Trifft wohl auf unsere Ann zu.«

Sie sitzt in die Decke gehüllt da und trinkt Kaffee. Eduard ist unterwegs zum Markt, er hat uns ein gutes Frühstück versprochen.

»Meinst du nicht, dass das gefährlich ist? Vielleicht sollte sie jemand davon abhalten.«

»Ist wohl zu spät. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie es durch, glaub mir«, sagt sie, gähnt und streckt sich genüsslich.

Eduard kommt und macht uns allen ein köstliches Omelett. Er raucht seine Zigarre, fragt, was wir so vorhaben, zeigt ihr das Bild von gestern, die schlafende Muse nennt er es, ein Arbeitstitel, lacht und zeigt ihr ihre Schokoladenseite.

»Hier, links, da, genau so, wie du eingeschlafen bist, so bist du am schönsten. Nicht, dass deine andere Seite nicht schön wäre, aber diese hier ist zum Malen gemacht. Zum Fotografieren kann die andere besser geeignet sein, aber zum Malen ist deine linke Gesichtshälfte perfekt«, schwärmt er, und sie wirkt gar nicht mal beleidigt.

»Ach Eduard«, stöhnt sie, »du bist der Einzige, der das so rüberbringen kann, dass einer nicht gleich eingeschnappt ist«, lacht sie.

Eduard macht sich nach dem Frühstück sofort an die Arbeit und ignoriert uns einfach. Wir verlassen sein Atelier, satt und zufrieden. Sie ist heute besonders schön, so kommt es mir zumindest vor. Sie ist ausgeschlafen und entspannt. Wir gehen ans Meer, ziehen unsere Schuhe aus und spazieren barfuß in der Gischt.

»Ich will dir zeigen, welchen Weg ich gewandert bin, als ich hier allein war.«

»Gut, aber vorher muss ich mich noch umziehen, es wird heute richtig heiß.«

Wir gehen zu unserem Ferienappartement und ziehen uns etwas Passendes an. Sie klatscht sich eine halbe Tube Sonnencreme auf die Haut, ich muss alles feinsäuberlich einreiben. Sie lacht, wenn es sie kitzelt.

Ich nehme meinen Rucksack mit, ich will das Wasser und die Sonnencreme nicht in einer Tüte oder in der Hand mitschleppen. Sie besteht darauf, dass ich das alles mitnehme.

»Nicht, dass wir einen Sonnenbrand kriegen! Hier, mein Handy kannst du auch einstecken.«

Ich stecke das Ding in die Seitentasche. Wir machen uns endlich auf den Weg.

44

»Dir geht’s schon besser, oder?«, frage ich sie, als sie den Dünenweg runterläuft.

»Oh ja, Eduard hat mir mit seiner Malerei und dem Wein wieder Lebenskraft eingehaucht.«

»Kenn ich, hab ich letztes Mal auch gespürt. Man fühlt sich schon echt wohl in seinem Atelier.«

Wir gehen los, schweigen, blinzeln uns zu, halten Händchen, legen uns ab und zu hin und genießen die frische Brise, die manchmal die heiße Luft durchbricht.

In einer Strandbar trinken wir Kaffee, sie bestellt sich ein Croissant dazu. Ich kann nach Eduards üppigem Frühstück nicht ans Essen denken. Die Bar ist voll, wir haben Glück, die letzten freien Plätze gehören uns. Sie will sie nicht vorschnell aufgeben, wir bestellen uns also Nachschub und bleiben mehr als eine Stunde da.

Als wir endlich zahlen und in die Mittagshitze hinausstürmen, bin ich froh, mich wieder in Bewegung zu setzen. Gut gelaunt marschieren wir weiter, immer den Strand entlang, dem Süden der Insel entgegen.

Es müssen so zwanzig Minuten vergangen sein, als ich sie nachcremen soll.

»Die Sonne knallt ganz schön. Sei bitte so nett«, sie streckt ihre Hand aus.

Ich seufze, rolle theatralisch mit den Augen und greife an meine Schultern, um den Rucksack abzunehmen. Keine Riemen. Nichts. Meine Hände greifen an mein Hemd. Panisch greife ich nach hinten. Der Rucksack ist nicht da.

»Verdammt! Der Rucksack! Ich habe ihn vergessen! Im Café! Schnell, zurück!«

Wir rennen zurück. Der Rucksack ist nicht mehr da. Und erst jetzt fällt mir ein, dass auch Anns Buch drin war. Ich habe es nicht rausgelegt beim Packen am Morgen.

»Mein Handy!«, ruft sie und schlägt sich die Hände vors Gesicht.

Ich frage den Kellner, ob er etwas gesehen hat. Dann den zweiten. Keiner hat im Trubel etwas bemerkt. Ich frage die Leute an den Nachbartischen. Auch sie können nichts Konkretes sagen. Sie fragt, ob sie das Telefon benutzen kann, und ruft sich am Handy an. Es klingelt zwar, aber keiner geht ran. Wir lassen unsere Kontaktdaten da. Man werde uns Bescheid sagen, falls der Rucksack nochmal auftaucht. Mit leeren Händen müssen wir weiterziehen.

»Zum Glück macht das Ding regelmäßig eine Sicherung. Ich werde das Handy gleich löschen, wenn wir zurück in der Wohnung sind. Das geht ja per Fernlöschung vom Computer aus.«

Sie hat sich schnell wieder beruhigt. Sie hat ja auch Handlungsmöglichkeiten. Ich dagegen bin vollkommen fertig. Es war das einzige Exemplar. Ann hat es mir anvertraut, und jetzt ist es weg. Wie werde ich es ihr erklären können? Wie kann ich es wieder gut machen? Ich bin auch noch nicht dazu gekommen, die Seiten zu kopieren, wie ich es vorhatte. Warum habe ich es bloß noch nicht gemacht!

Ich erzähle ihr das alles, während wir in die Ferienwohnung eilen. Sie versucht, mich zu beruhigen.

»Vielleicht hat ihr Bruder ja noch eins. Wir müssen nur rausfinden, wo er grad ist und ihn anrufen.«

»Tja, er ist wohl in einem Kloster irgendwo in Japan. Ich weiß nicht mal, wie er heißt, ihr Bruder. Und wie sucht man da? Wo ruft man da an?«

»Werden wir schon rausfinden.«

»Und wenn es wirklich das einzige Exemplar war?«

»Da hätte sich Ann Gedanken machen müssen und eine Kopie anfertigen müssen. Wer weiß, vielleicht hat sie es auch gemacht. Es wäre total leichtsinnig von ihr, das Buch auszuleihen und keine Kopie zu haben, wenn es ihr so wichtig ist.«

»Ich kann sie aber doch nicht nach einer Kopie fragen.«

»Warum nicht? Sag einfach, dir hat das Buch so gut gefallen, dass du gerne eine Kopie davon haben würdest, und ob sie dir eine schenken kann. Oder ich frage sie, ob sie eine hat. Ich kann ja sagen, dass ich es gerne lesen würde.«

»Würdest du das machen, ja?«

»Na klar, mach dir da keine Sorgen. Wir müssen nur warten, bis sie wieder zurück ist.«

Bei der Vorstellung, auf ihre Rückkehr zu warten, wird mir übel. Wie lange kann es dauern? Wir wissen ja gar nicht, für wie lange sie weg ist. Ich muss in dieser Zeit in Ungewissheit verbringen. Das macht mich jetzt schon fertig.

Dass eine Panikattacke sich in Lauerstellung bringt, merke ich gleich, nachdem wir das Café verlassen haben. Auf dem Weg zur Wohnung wird das Gefühl immer präsenter. An einem Punkt weiß ich mit Sicherheit, dass es bald so weit ist. Mein Herz schlägt schneller, ein Schweregefühl legt sich auf die Brust, die Schläfen pochen.

Als wir in der Wohnung sind, lege ich mich hin. Sie setzt sich gleich an ihren Computer und löscht ihr Telefon per Fernsteuerung.

»So, jetzt muss ich mir nur ein neues kaufen. Weißt du was, ich bestell mir gleich eins. Wie geht’s dir, alles okay? Du bist ja blass.«

Ich liege da und starre an die Decke, ich zittere und habe kalte, schwitzige Hände.

»Das Buch ist für immer weg. Wie werde ich es Ann sagen können?«

»Mach dir keine Sorgen, wir finden schon eine Lösung. Ich schaue gleich, ob ich die Nummer des Klosters finden kann. Ich muss mir den Namen irgendwo notiert haben.«

Sie sucht in ihrem Computer, schaut in ihrer Geldbeutel nach, doch sie findet nichts. Sie verspricht, Jenny anzurufen und sie zu fragen, vielleicht weiß sie ja etwas. Dann setzt sie sich zu mir, hält meine Hand und redet beruhigend auf mich ein. Ich komme langsam runter, mein Atem beruhigt sich, ich dämmere vor mich hin.

45

Am Abend beschließen wir, wieder rauszugehen. Jenny sagte vorhin am Telefon, dass sie das Kloster raussuchen und uns die Infos schicken wird. Wir bleiben ein paar Stunden draußen, laufen umher und schauen uns den Sonnenuntergang an. Ich bin nervös.

Als wir zurück sind, schaut sie nach, und tatsächlich, Jenny hat ihr eine Nachricht geschickt auf dem Computer. Das Kloster hat sogar eine Webseite. Wir suchen die Nummer raus und gehen zum Telefonieren zu Eduard. Er hat sogar noch ein altes Telefon mit Drehscheibe. Wir drehen die Nummer, sie spricht auf Englisch. Sie fragt. Wartet. Wiederholt. Schaut mich an. Legt auf.

»Er ist nicht mehr da, abgereist vor ein paar Monaten. Sie wissen nicht, wo er grad ist.«

Ich versuche, ruhig zu bleiben.

»Irgendwie hab ich’s geahnt. Jetzt muss ich Ann das mit dem Buch sagen.«

»Wie gesagt, bei der nächsten Gelegenheit frage ich sie nach einer Kopie. Verlieren wir nicht die Hoffnung.«

Sie umarmt mich. Ich gebe mich auf.

Ich versuche, die Sache erst mal zu vergessen. Wir haben eine gute Zeit. Eduard kocht Spaghetti, ich esse mit, eine große Portion. Ich habe schon lange keine Spaghetti gegessen, und diese schmecken besonders lecker, mit Basilikum und frischer Tomatensauce.

»Nichts aus der Dose, nur damit ihr’s wisst!«, zwinkert uns Eduard stolz zu.

Wir bleiben bis Mitternacht. Auf dem Nachhauseweg spazieren wir am dunklen Strand entlang.

Sie muss morgen zurück, die Arbeit ruft.

»Konntest du dich gut erholen?«, will ich wissen, als wir uns hinsetzen und die Sterne beobachten.

»Oh ja. Nur der Stress gestern und heute war viel. Aber ich fühle mich schon besser. Und meine Alten vermiss ich auch schon.«

Sie lacht, und ich sehe, dass sie wieder zurück will.

Am nächsten Morgen begleite ich sie zum Bahnhof.

»Willst du nicht mitkommen?«, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. Ich brauch noch etwas Zeit hier. Ich verspreche ihr, in den nächsten Tagen nachzukommen.

46

Ich gehe zurück in die Ferienwohnung, lege mich aufs Bett, schließe die Augen. Ich überlege, was ich tun kann, um das Buch zurückzubekommen. Was habe ich für Möglichkeiten? Die ganze Insel nach dem Rucksack absuchen? Was ist, wenn derjenige, der den Rucksack mitgenommen hat, die Insel schon längst verlassen hat?

Ich muss es trotzdem versuchen. Ich raffe mich also wieder auf und gehe raus.

Ich verbringe den Tag damit, in der Gegend herumzulaufen und Ausschau nach dem Rucksack zu halten. Doch ich habe kein Glück. Das Ding bleibt wohl für immer verschwunden.

Abends gehe ich zu Eduard. Er malt an einem Bild und beachtet mich wenig. Ich schaue ihm bei der Arbeit zu, das beruhigt mich irgendwie. Er lässt keine Musik laufen, nichts, er malt in vollkommener Stille, und ich erhole mich.

Irgendwann setzt er sich zu mir, wir trinken Kaffee und betrachten gemeinsam das Bild.

»Ich bin nicht zufrieden. Siehst du den Schatten da? Ist doch nicht realistisch«, sagt Eduard und zündet sich eine Zigarre an.

»Meinst du? Also ich finde alles stimmig.«

»Nee, also ich glaub, ich fange wieder von vorne an.«

Sagt’s, steht auf, flitzt zum Bild rüber, holt es von der Staffelei herunter, stellt es an die Wand, holt eine leere Leinwand, platziert sie an der Staffelei, macht einen Schritt zurück, atmet hörbar durch und macht sich an die Arbeit. Ich schüttle verwundert den Kopf.

In diesem Moment macht es bei mir Klick. Ein Gedanke blitzt auf, wie aus dem Nichts. Ich werde das Buch neu schreiben müssen. Es gibt keine andere Lösung. Ich muss es machen. Ich habe es verloren, also muss ich es wieder zum Leben erwecken.

Ich weiß, dass es nicht dasselbe sein wird, aber ich werde so viel Zeit und Mühe darauf verwenden, dass es dem Buch ähnelt.

Ich frage Eduard gleich, ob er Papier zum Schreiben und einen Stift für mich hätte. Geistesabwesend wühlt er in einer Schachtel herum, holt ein paar leere Blätter heraus, einen Stift reicht er mir auch. Dann malt er weiter.

Ich lege mir die Blätter zurecht, gehe einen Moment in mich, setze den Stift aufs Papier und schreibe das erste Wort, das durch mich fließen will. Und dann das nächste. Ich lasse mir Zeit, ich bin nicht in Eile. Wort für Wort für Wort für Wort.

Ich vergesse alles um mich herum und vertiefe mich ins Schreiben. Es vergehen Stunden. Als es draußen dunkel wird, macht Eduard die Stehleuchte an. Er selbst hat ein helles, weißes Deckenlicht, das auf die Staffelei gerichtet ist.

»Schreibst du was Schönes?«, fragt er mich bei einer seiner Kaffeepausen.

»Nein, nichts Schönes. Etwas Notwendiges.«

Ich bleibe noch eine Weile und schreibe die Seiten voll. Eduard verabschiedet sich und sagt, dass er morgen früh für ein paar Tage zu seinem Sohn fährt und dass ich hier bleiben kann, wenn ich will. Ich sage zu. Aus der Ferienwohnung muss ich sowieso morgen ausziehen, das trifft sich also gut.

Eduard gibt mir einen Schlüssel, klopft mir auf die Schulter und geht schlafen. Ich bleibe im schwachen Licht der Stehlampe sitzen und beende die letzten Sätze für heute. Erschöpft lege ich mich hin und schlafe erleichtert ein. Ich habe eine Lösung gefunden. Die Angst lässt mich aus ihren Krallen. Ich sinke in einen traumlosen Schlaf.

47

Ich wache früh auf und finde mich allein im Haus wieder. Eduards Haus ist nicht groß, ich habe das erste Mal hier übernachtet. Es hat fünf Zimmer, alle klein und altmodisch eingerichtet. Die Schlafcouch, auf der ich geschlafen habe, ist durchgelegen und quietscht. Mir macht es nichts aus, ich habe fest und erholsam geschlafen. Meine Angst und Anspannung sind abgefallen, seitdem ich mit dem Schreiben angefangen habe.

Ich gehe in den Garten und pflücke ein paar Äpfel vom Apfelbaum, der einsam mitten in Eduards Garten steht. Die Äpfel sind klein, schmecken wunderbar sauer und frisch nach Sommer. Ich mache ein paar Liegestütze, Kniebeugen und mache Eduards Bewegungen nach, ein Tai-Chi-Meister ohne Ahnung. Es macht Spaß, sich in der warmen Sonne zu bewegen, den Körper zu spüren, den Geist frei zu wissen, den Körper entspannt zu fühlen.

Wo Ann wohl gerade ist? Und ihr Bruder? Hoffentlich geht es ihnen gut.

Und sie? Sie ist jetzt wohl wieder bei ihren Alten.

Mittags klingelt das Telefon. Sie ist dran.

»Oh, gut, dass ich dich erreiche. Ich wusste irgendwie, dass du bei Eduard bist. Ah, du bist allein? Wie geht’s dir? Freut mich, dass es dir besser geht. Übrigens, Ann hat sich gemeldet. Ja, echt! Sie hat ihren Stalker sitzen gelassen, stell dir das mal vor! Ja, sie ist jetzt in Italien, auf Capri, glaub ich. Und ihr Bruder ist auch dort, sie haben sich ja schon lange nicht gesehen, und jetzt genießen sie die Zeit miteinander. Ja klar, ich hab sie gleich nach dem Buch gefragt. Ihr Bruder hat das Buch irgendwo drauf, auf einer Festplatte oder so. Er kann mir ein Exemplar drucken lassen! Ja, das Buch ist nicht verloren! Mach dir also keinen Kopf mehr. Ich hab Ann gesagt, dass ich das Buch, das sie dir gegeben hat, aus Versehen irgendwo verloren hab. Ja, ich hab’s auf meine Kappe genommen. Kein Problem. Nein, sie war gar nicht böse, mir kann sie nicht böse sein, weißt du. Also, die Sache ist geklärt, sie kriegt ein frisches Exemplar von ihrem Bruder. Mach dir keine Sorgen mehr, alles ist geklärt. Und mein neues Telefon ist übrigens auch schon da, es ist richtig schick. Kommst du auch bald? Ja. Also, ich wollte noch sagen, dass ich mit der ganzen WG für ein paar Tage wegfahre. Ich weiß nicht, mit dem Wohnwagen irgendwohin. Ich würde dich ja mitnehmen, aber es ist so eine Art Tradition bei uns. Wir machen das jedes Jahr. Wir sehen uns bald. Ja. Ich weiß. Ja, bis bald.«

Ich sitze da und bin unglaublich erleichtert, froh, glücklich. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich springe auf, hüpfe herum, trällere ein Lied. Dann bleibe ich wie angewurzelt stehen und realisiere,  das Weiße Buch ist nicht verloren.

Ich muss also nicht weiterschreiben.

Und dann spüre ich so etwas wie Bedauern.

Und ich beschließe, nicht aufzuhören. Ich beschließe, mein eigenes Weißes Buch zu schreiben.

Ich verlasse die Sonnenstrahlen, verlasse den Garten, gehe ins kühle Atelier, setze mich hin, nehme eine leere Seite, breite sie vor mir auf dem Tisch aus, schließe die Augen, nehme einen tiefen Atemzug, halte den Atem an, warte, halte, warte, und atme endlich aus.

Ich nehme den Stift, halte einen Moment lang inne, und lasse den Stift schließlich über das Papier wandern.

48

Ein paar Tage später kommt Eduard zurück. Ich verabschiede mich und finde mich kurze Zeit später in meiner Wohnung in der Stadt wieder.

Sie hat mir eine Notiz unter die Tür geschoben:

»Danke für die schöne Zeit. Bis bald. P.S. Jenny und die Jungs lassen dich grüßen. Du sollst mal vorbeikommen.«

Ich gehe ins Bad und nehme eine lange, heiße Dusche. Der Spiegel ist noch beschlagen, als ich davorstehe und geduldig zuschaue, wie mein Gesicht langsam Form annimmt, bis ich mich irgendwann klar und deutlich sehe.

Ich schaue mir so lange in die Augen, bis ich das Gefühl bekomme, jemand Fremdes guckt mich an. Ich schließe die Augen für ein paar Sekunden, und als ich sie wieder aufmache, sehe ich für einen kurzen Moment einen Menschen im Spiegel, den ich irgendwoher zu kennen glaube, an den ich mich aber nur grob erinnere. Ich sehe eine junge Frau mit ernstem Gesicht vor mir, nicht hübsch, nicht hässlich, ziemlich neutral, ein Gesicht wie tausend andere, doch die Augen sind sehr schön, sie schauen mich groß und klar an.

Bis mein Körpergefühl plötzlich wieder da ist und ich mich vor dem Spiegel wiederfinde, wie ich mich mit starrem Blick ansehe.

Ich verlasse das Bad, setze mich im Zimmer auf den Boden, nehme ein paar leere Blätter zur Hand und einen alten Stift, der wunderbar schreibt. Ich nehme eine alte Zeitschrift als Unterlage her und schreibe los.

49

Sie kommt noch ein paar Mal vorbei.

Von Ann, Jenny und den Jungs höre ich nichts mehr.

Eduard steht wohl wie immer vor seiner Staffelei, malt und hat alles um sich herum vergessen.

Und ich? Ich schreibe mein Buch.

Den Staubsauger habe ich übrigens verkauft und mir einen Saugroboter angeschafft. Ich höre ihm gern zu. Er macht einen Bogen um mich herum. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.

### ENDE ###